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Traumschlange

Titel: Traumschlange
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Dunkelheit davon.
    Schlange redete sanft auf die Kobra ein, während sie mit ihr kämpfte, durch den Sand im Vorteil, auf dem Dunst keinen festen Halt finden konnte. Schlange spürte, wie hinter ihr der junge Mann Leib und Schwanz der Kobra zu umklammern versuchte. Urplötzlich war der Anfall vorüber, und Dunst hing schlaff in ihren Händen.
    »Vergib mir...«
    »Halt sie fest«, sagte Schlange. »Die ganze Nacht liegt noch vor uns.«
    Während des zweiten Anfalls, den Dunst erlitt, behielt der junge Mann sie in sicherem Zugriff und war eine echte Hilfe. Erst danach beantwortete Schlange seine unterbrochene Frage. »Hätte sie ihren Giftvorrat aufgefrischt und würde dich beißen, müßtest du wahrscheinlich sterben. Selbst jetzt würdest du an ihrem Biß erkranken. Doch falls du nicht eine Dummheit begehst, wird sie, falls es ihr überhaupt gelingt, mich beißen.«
    »Du würdest meinem Vetter wenig nutzen, wenn du tot wärst oder im Sterben lägest.«
    »Du mißverstehst mich. Dunst kann mich nicht töten.« Sie hielt ihre Hand empor, damit er die weißen Narben von Kratzern und Bissen sehen konnte. Er starrte sie an, dann sah er Schlange für einen langen Moment in die Augen; schließlich wandte er den Blick ab.
    Der helle Fleck in den Wolken, der das Licht verbreitete, strebte am Himmel westwärts; sie hielten die Kobra wie ein Kind. Schlange nickte halb ein, aber Dunst regte ihren Kopf, als sie einen matten Versuch unternahm, sich dem Gewahrsam zu entwinden, und Schlange schrak heftig auf.
    »Ich darf nicht schlafen«, sagte sie zu dem jungen Mann. »Rede mit mir. Wie nennt man dich?«
    Der junge Mann zögerte, so wie es Stavin getan hatte. Er schien sich vor ihr zu fürchten oder etwas ähnliches.
    »Mein Volk betrachtet es als unklug«, sagte er, »unsere Namen fremden Ohren anzuvertrauen.«
    »Wenn ihr mich für eine Hexe haltet, hättet ihr mich nicht um Hilfe ersuchen sollen. Ich verstehe mich nicht auf Zauberei und erhebe auch keinen Anspruch auf das Verständnis ihrer Künste. Ich kann nicht alle Sitten aller Völker dieser Erde lernen, also bleibe ich bei meinen eigenen Gewohnheiten. Und es ist meine Gewohnheit, jene beim Namen zu nennen, mit denen ich zusammenarbeite.«
    »Es ist kein Aberglaube«, sagte er. »Es verhält sich nicht so, wie du vielleicht denkst. Wir fürchten nicht, verhext zu werden.«
    Schlange wartete, beobachtete ihn und versuchte im Zwielicht seine Miene zu deuten.
    »Unsere Familien kennen unsere Namen, und wir tauschen das Wissen um unsere Namen mit jenen aus, die wir heiraten möchten.«
    Schlange dachte über diese Sitte nach und fand, daß sie damit schlecht zurechtkäme.
    »Mit niemand anderem? Niemals?«
    »Nun... ein Freund könnte einen Namen erfahren.«
    »Aha«, sagte Schlange. »Ich verstehe. Ich gelte noch als Fremde, vielleicht als Feind.«
    »Ein Freund könnte meinen Namen wissen«, wiederholte der junge Mann. »Ich möchte dich nicht kränken, aber nun mißverstehst du mich. Ein Bekannter ist kein Freund. Wir schätzen Freundschaft hoch.«
    »In diesem Land sollte man rasch entscheiden können, ob eine Person es verdient, ›Freund‹ genannt zu werden.«
    »Wir schließen selten Freundschaften. Freundschaft ist eine Verpflichtung.«
    »Das klingt, als sei sie etwas, wovor man sich fürchten müßte.«
    Er dachte darüber nach. »Vielleicht ist es der Verrat an der Freundschaft, den wir fürchten. Er ist eine sehr schmerzliche Sache.«
    »Hat dich schon einmal irgend jemand verraten?«
    Er warf ihr einen scharfen Blick zu, als habe sie die Grenzen des Zumutbaren überschritten.
    »Nein«, antwortete er, und seine Stimme war so hart wie sein Gesicht. »Kein Freund. Ich kenne niemanden, den ich einen Freund nenne.«
    Sein Verhalten erschreckte Schlange. »Das ist sehr traurig«, sagte sie und schwieg für eine Weile; sie versuchte die Einflüsse zu erkennen, die Menschen in solchem Maße verschlossen machen konnten, suchte ihre Einsamkeit aus Notwendigkeit und die selbstgewählte Einsamkeit dieser Menschen zu ermessen.
    »Nenne mich Schlange«, sagte sie endlich, »falls du dich dazu bringen kannst, es auszusprechen. Das Aussprechen meines Namens verpflichtet zu nichts.«
    Der junge Mann wollte anscheinend etwas darauf erwidern; vielleicht in der Annahme, sie erneut gekränkt zu haben, vielleicht etwas zur nochmaligen Verteidigung seiner Bräuche. Aber Dunst begann unter ihren Händen zu zucken, und sie mußten sie gewaltsam daran hindern, sich selbst zu verletzen.
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