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Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende
Autoren: Marlo Morgan
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das von einem weißen Palisadenzaun umgeben war. Sie begann den Tag, indem sie von Ort zu Ort und Person zu Person rannte und hektisch suchte. Endlich ging sie langsamer und hielt Ausschau nach Hinweisen über das Verschwinden all jener, die sie liebte.

    An diesem Tag aß sie nichts und verbrachte die Stunden in körperlicher und seelischer Qual. Aus ihren Brüsten tropfte die Milch. Fliegen sammelten sich um sie und wanderten über ihren Körper. Sie konnte nicht begreifen, was vor sich ging. Es stand in völligem Gegensatz zu allem, was sie jemals von ihrem Volk gelernt hatte. Sie erinnerte sich an das, was »Old One« einst gesagt hatte: »Die Weißhäute sind nicht schlecht. Sie benutzen nur ihren freien Willen dazu, um Dinge zu tun, die für unser eigenes Volk nicht richtig riechen und schmecken.« Aber es war sehr schwierig für dieses junge Mädchen, nicht über sie zu urteilen. »Old One« hatte auch gesagt: »Ich glaube, dass sie eine irdische Prüfung sind. Wir müssen einander dabei helfen, sie zu bestehen!« Aber sie hatte keine Unterstützung dabei. Sie war allein.
    Am Abend war sie in einem emotionalen und seelischen Zustand, von dessen Existenz sie noch nichts gewusst hatte. Sie hatte entdeckt, dass sie in der Vergangenheit leben konnte. Die Gegenwart trat zurück. Überall, wohin sie auch schaute, sah sie immer weniger von dem, was das Leben ihrer Kenntnis nach sein sollte. Aber ich werde nicht weniger werden, dachte sie. Gestern sagte ich: »Was dem höchsten Wohl dient, sind meine Babys und ich zu erfahren bereit.« Jetzt sind sie mir weggenommen worden. Alles ist mir weggenommen worden. Ich werde traurig sein, ich werde trauern. Das ist richtig, denn so fühle ich mich, aber immer werde ich mein Herz sagen hören, dass die Ewigkeit eine lange, lange Zeit ist. Meine Kinder und ich sind für immer Geister. Irgendwie gibt es eine unsichtbare Liebe und Unterstützung auf dieser geheimnisvollen und schmerzhaft komplizierten Reise. Was ist der Zweck unseres Daseins? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, es gibt einen vollkommenen Daseinszweck, und ich akzeptiere ihn in Traurigkeit.
    Ein paar Monate später wurde sie zur Arbeit auf eine Viehfarm geschickt und verbrachte ihre Tage in einem Kattunkleid mit einer gestärkten Schürze, die im Nacken und auf dem Rücken gebunden war. Schwarze Schuhe wurden in der Morgendämmerung angezogen und trugen sie vom Herd in die Waschküche, zur Wäscheleine, in den Gemüsegarten und wieder in die Küche. Ihre tägliche Routine veränderte sich im Lauf der Jahre kaum. Sie war eine stille Frau, die nie wieder einen Tag mit dem Morgenritual ihrer Ahnen begrüßte. Für sie gab es keinen neuen Tag. Sie sprach und träumte nicht mehr und nahm außer an ihrer Arbeit an keiner Aktivität mehr teil. An der Oberfläche wirkte sie, als habe sie alle Hoffnung, alles Interesse am Leben aufgegeben, zeitweilig vielleicht auch ihre geistige Gesundheit verloren. In Wirklichkeit ergab sie sich nur einer Situation, derer sie nicht Herr werden konnte, und ihren religiösen Überzeugungen entsprechend verwandte sie keine Energie auf etwas, wovon sie nicht wollte, dass es wuchs. Sie respektierte ihre Trauergefühle und nahm weder Einfluss auf irgendein anderes Leben, noch behinderte sie es. Sie lebte nur in den stillen, friedlichen Geschehnissen ihrer Erinnerungen und achtete darauf, dass ihr ihre spirituelle Anteilnahme bewahrt blieb. Das wurde ihr einziger Grund, weiter zu existieren. Sie hatte nicht das Gefühl, dass das, was geschah, richtig war. Sie verstand es nicht, aber es ging über den Glauben an etwas, das mit den Gefühlen in Konflikt stand, hinaus. Der Schritt über den Glauben hinaus bestand für ihr Volk in Wissen. Sie akzeptierte, was geschah, weil sie wusste, der vollkommene Sinn des Himmels war dafür verantwortlich.
    Mrs. Enright hatte die erschöpfte junge Mutter am Abend allein auf der grünen Armeeliege zurückgelassen und sich nicht darum gekümmert, ob sie lebte oder starb. Geschäftig lief sie umher und überlegte, was mit den Babys geschehen sollte. Ich brauche einen Korb, um diese Kinder hineinzulegen, dachte sie. Es gab einen in ihrer Küche, der den Zweck erfüllen würde. Sie machte sich auf den Weg zum Haus und kehrte dann doch um, um die beiden Neugeborenen zu holen. Sie waren zwar noch zu klein, um von dem nackten Holztisch herunterzurollen, aber der Junge schien ungewöhnlich kräftig. »Bei diesen seltsamen Eingeborenen weiß man nie. Sie sind nicht
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