Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende
Autoren: Marlo Morgan
Vom Netzwerk:
empfand es als ein Omen für einen großen Verlust, und ihr wurde die Trauer darüber, dass der Baumgeist fort war, bewusst. Ein Teil ihrer religiösen Überzeugung beruhte darauf, dass die Erde dazu geschaffen sei, Gefühle zu lehren. Ihr Volk verbarg oder verleugnete Gefühle niemals. Die Menschen waren dafür verantwortlich, wie und was sie empfanden, und lernten, alles begleitende Handeln zu kontrollieren. Die junge Frau verspürte Trauer, nicht nur wegen der verfallenden Hülle des einst stattlichen, Schatten und Sauerstoff spendenden Freundes, sondern auch wegen der anderen Tode, die er möglicherweise symbolisierte.
    Die Wehen wurden jetzt sehr stark. Ihr Kind, dessen Totem Seltsames verhieß, widersetzte sich mit heftigen Bewegungen seiner Ankunft. Sie erhob sich von dem Kräuterrauch, über dem sie zusammengekauert saß, und grub eine kleine Vertiefung in den warmen Sand, wo sie sich erneut niederließ und den Rücken gegen einen Felsblock lehnte. Als sie zu pressen begann, dachte sie an die Zeit, Monate zuvor, als sie und ihr Mann sich darauf geeinigt hatten, die empfängnisverhütende Pflanze nicht mehr zu kauen, die alle Stammesmitglieder benutzten, bis sie bereit waren, die Verantwortung für die Reise eines Geistes zu tragen. Zusammen planten sie, die äußere Hülle für einen Geist zur Verfügung zu stellen, indem sie ein Kind zeugten. Ihr Mann hatte von einem seltsamen verwundeten Vogel mit nur einer Schwinge geträumt, der nicht fliegen und kein Nest bauen konnte. Er flatterte so schnell auf dem Boden umher und schlug so hektisch mit den Flügeln, dass er zu einem doppelten Bild verschwamm. Es war ein verwirrender Traum gewesen.
    Als seine Frau war sie allein in die trockene Wildnis gegangen und hatte nach einem Geistzeichen gesucht, um den Traum besser zu verstehen. Da kein besonderes Tier oder ein Reptil erschienen war, beriet sich das Paar mit älteren, weiseren Mitgliedern der Gemeinschaft und erfuhr, dass der Traum die Stimme eines Ewigen Geistes sei, der sie bat, seine Eltern zu werden. Wie üblich kündigte der ungeborene Geist zuerst sein Verlangen an; der Akt der Empfängnis folgte erst später. Ihr Stammesvolk richtete sich genau nach den Wünschen, Botschaften und Bewusstseinsebenen des noch Ungeborenen.
    Die junge Frau war an den geheiligten Ort ihrer Familie gekommen, weil es wichtig war, wo jemand geboren wurde. Die Überlegungen zum Geburtsort werden von den Schritten der Mutter bestimmt; das Ungeborene hat keinen Einfluss darauf, wo es zur Welt kommen wird. Das Kind spricht jedoch, indem es die erste Bewegung macht, die die Mutter nicht beeinflussen kann. Wo genau sie dieses erste Flattern spürt, ist das bedeutsamste Zeichen. Der Ort der ersten Lebensäußerung bestimmt über das Totem und die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Gesangsgrenzen, den »songlines«. Diese »songlines« entstanden, indem die Aborigines durch Lieder mit bestimmten Details und vorgegebenen Rhythmen Entfernungen maßen und Grenzen bestimmten. Die Stellung der Sterne am Himmel wiederum sagt etwas über Charakter und Persönlichkeit des noch unsichtbaren Stammesmitglieds aus.
    Die erste Bewegung dieses Kindes war kein sanfter Schubs gewesen. Es hatte vor Monaten mit einem heftigen Stoß begonnen und sich von diesem Moment an immer in der gleichen Weise bemerkbar gemacht. Oft hatte sich der ganze Bauch der jungen Frau von einer Seite zur anderen bewegt und sich von oben bis unten gekräuselt, was von den anderen Frauen und den Heilern der Gruppe als ungewöhnlich betrachtet worden war. Die zukünftige Mutter war eine zierliche Person, und sie hatte einen unverhältnismäßig stark gewölbten Leib. Mehrere Beobachter hatten gemeint, die Kraft in ihrem Körper kämpfe ständig, entweder, um vor der Zeit herauszukommen, oder um mehr Raum zu fordern, als die Dehnung der Bauchdecke zuließ. In den vergangenen Monaten hatte die junge Mutter Rat und Anleitung gesucht. Sie war noch keine Meisterin darin, die Botschaften der Sterne zu verstehen, aber sie war dabei, es zu lernen. Oft wenn es in ihrem Körper am lebhaftesten zugegangen war, hatte sie zum Himmel aufgeblickt, um den Stand der Gestirne zu beobachten, aber davon war sie ganz benommen geworden. Sie konnte dann nicht mehr klar sehen, und alles verschwamm zu einer hellen, leuchtenden Masse anstatt klar definierter einzelner Punkte. Wenn sie den Kopf dann nicht gesenkt hatte, war ihr schwindlig geworden, und sie hatte das Gefühl gehabt, ohnmächtig zu werden.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher