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Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende
Autoren: Marlo Morgan
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Gesicht und der Brust über dem Lumpenkleid. Schweißbäche rannen durch die Falten um die Nase, liefen ihr in den Nacken und tropften schließlich auf das stinkende Segeltuch. »Ich werde mich später um sie kümmern.«
    In der Nacht merkte die junge Mutter, dass ihre Brüste sich gefüllt hatten, und war überzeugt, dass die Babys bei ihr seien, damit sie sie stillen könnte. Sie hörte Stimmen. Zuerst war da die Stimme eines Ältesten im Raum, dann die eines anderen Mannes. Keiner der Männer gehörte ihrem eigenen Stamm an. Auch die heisere Stimme von Reverend Enright tönte bedrückend durch ihre verworrenen Gedanken. Sie erwachte mitten in der Nacht und wusste einen Moment lang nicht, wo sie sich befand. Ihre Brust schmerzte. Es war dunkel in dem Raum, und es roch wie in der Höhle von Fledermäusen. Sie konnte die offene Tür erkennen, wo durch das Rechteck das Mondlicht zu sehen war, und sie wusste, dass der Tisch rechts stand. Sie fand ihn und tastete nach ihren Kindern. Der Tisch war leer.
    Die Missionsstation war eine kirchliche Einrichtung. Sie war ein Gemeinschaftswerk, gegründet von den Mitgliedern der Missionsgesellschaft, die freiwillig in diesen gottverlassenen Teil des australischen Kontinents gekommen waren, um die Seelen der eingeborenen schwarzen Heiden zu retten. Später hatte die Regierung sich daran beteiligt, denn das gehörte zu ihrem Programm der Gleichstellung aller Bürger. Die Absicht, den Ureinwohnern tatsächlich die Staatsbürgerschaft zu verleihen, bestand allerdings nie; statt dessen wurde legal beschlossen, dass sie dem »Flora and Fauna Act«
    unterstanden. Die Station war eine Art Gefangenenlager, mitsamt Zaun und körperlichen Strafen für Ungehorsam. Jede Besichtigung der Einrichtung durch Besucher begann mit dem Gebäude, das einfach aus einem Dach auf Holzstützen bestand und als »Freiluftschule« bezeichnet wurde. Stolz erklärten sie, von allen Aborigines jeden Alters werde verlangt, dass sie sich zu bilden versuchten. Die Bibel war der grundlegende Text. Das Hauptaugenmerk wurde darauf gerichtet, ihnen klarzumachen, dass die Stammesbräuche Teufelswerk und verboten seien.
    Anreisende Würdenträger wurden dann zu der kleinen Kapelle geführt. Diese bestand aus drei Wänden. Die Frontseite war völlig offen, so dass man als erstes eine große Figur des blutenden Christus am Kreuz hängen sah und direkt darunter ein hohes Katheder in der Mitte zwischen vier Küchenstühlen aus Chrom mit roten Bezügen. Von den Gemeindemitgliedern wurde erwartet, dass sie standen oder auf der nackten Erde saßen. Anschließend wurde den Besuchern die Krankenstation vorgeführt, wo es keinerlei medizinische Instrumente oder Einrichtungen gab. Alle Verbände, Cremes und Salben wurden nach Verwendung wieder weggebracht. Das Gebäude war lediglich ein Vorzeigestück und mit einem auf die Tür gemalten weißen als besonderer Ort gekennzeichnet. Die Stammesleute merkten allmählich, dass die meisten hineingingen, beim Verlassen des Baus aber gewöhnlich getragen wurden. Außerdem gab es auf dem Grundstück noch zwei kleine Hütten für die Familien der Hilfsgeistlichen und ein großes Wohnhaus, in dem die Enrights lebten.
    Um 1930 waren alle Wohngebäude in Aussehen und Material unterschiedlich. Je weiter sie von der Zivilisation entfernt waren, desto mehr wichen sie ab von den traditionellen cremegelben Sandsteinbauten, die man in der Stadt sah. Die Architektur der Missionssiedlungen war schmucklos. Das Haus war ein ebenerdiges Quadrat mit geneigtem Blechdach, das sich auch über eine rundumlaufende Veranda erstreckte. Den Enrights hatte man gesagt, das vorspringende Dach sei erforderlich, um die Fenster zu schützen, die offen bleiben müssten, damit die heiße Luft zirkulieren könne. Da sie nicht genug über die Jahreszeiten, den Wind und die Richtungen wussten, aus denen er kommen konnte, ließen sie von den Arbeitern die gedeckte Veranda auf allen vier Seiten des Hauses anlegen, so dass der ganze Bau ein Quadrat bildete.
    Der erste Raum hinter der Haustür war das Wohnzimmer, wo ein schwarzes Harmonium, ursprünglich für die Kapelle gedacht, den Blick auf sich zog. Bevor das Musikinstrument eingetroffen war - verzögert aufgrund seiner Größe und in einer Kiste mit der Aufschrift »Zerbrechlich« -, hatte die Verwaltung befunden, dieses Meisterwerk sei an die Eingeborenen verschwendet. Soweit die weiße Geistlichkeit das feststellen konnte, besaßen sie einfach keinen Sinn für Töne und
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