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Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende
Autoren: Marlo Morgan
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Nacht, verschwand der endlose, flache Horizont in totaler Finsternis. Für Alex war das, als verdecke eine riesige Hand am Firmament den Strahl eines himmlischen Scheinwerfers. Die Wolke zog rasch vorbei, und der Mond tauchte wieder auf. »Das erinnert mich an Morsezeichen, kurz-kurz-lang, die von der Natur kommen.« Er nahm noch einen Schluck Whisky. Er mochte das unheimliche Gefühl nicht, das dieser Gedanke hervorrief. »Ich hoffe bloß, dass es kein SOS-Signal ist!« sagte er zu sich selbst.
    Der Karton mit dem Mädchen wurde zuerst abgeliefert, da das Waisenhaus ungefähr auf halber Strecke lag. Alex nahm die Tasse Tee und die beiden Kekse, die ihm die Schwester von der Nachtschicht anbot, aber er hielt sich nicht lange auf und achtete sorgfältig darauf, nicht in ihre Riechweite zu kommen. Als er zum Fahrzeug zurückkehrte, schien das andere Kind glücklicherweise zu schlafen, wenn auch Staub, die ungesunden Abgase und der Mangel an Nahrung das Ihre dazu beitrugen. Während der restlichen Fahrt gab das Kind keinen Mucks von sich und bewegte sich nur ein wenig, als die Sonne aufzugehen begann. Endlich wand sich das Auto auf einer exklusiven gepflasterten Straße vor einer Reihe prachtvoller Häuser mit Blick über den schönsten Hafen der Welt den Hügel empor.
    Die Residenz der Willetts war ein Gebäude aus handbehauenen Steinen, vor dem sich vier hohe weiße Säulen erhoben. Schon von weitem war das ferne Geräusch des Ozeans zu hören, dessen Wellen in der Bucht darunter gegen das Ufer schlugen. Der spektakuläre Ausblick war jenen vorbehalten, die privilegiert genug waren, durch die rückwärtigen Fenster im Obergeschoss zu blicken, oder die eingeladen wurden, sich auf der makellosen Steinterrasse zu entspannen, die aus dem Abhang geschlagen worden war. Der Rasen und die Blumenbeete auf der Vorderseite führten zu einer Reihe hoher Bäume neben der Einfahrt, die dann im Bogen an zwei Garagen und Lagerräumen vorbei und zu jener Seite des Besitzes führte, wo die geschnitzte Holztür ein Messingschild mit der Aufschrift LIEFERANTEN trug. Das Baby rang jetzt nach frischer Luft; sein Bauch war gespannt von unverdauter Flüssigkeit; sein Körper krümmte sich vor Schmerz. Dennoch gab es keinen Laut von sich, es schien sich der Umgebung unterworfen zu haben.
    Birdie Willett betrachtete sich selbst als mächtigste Frau des kirchlichen Verwaltungsapparats in ganz Australien. Sie hatte alles unter Kontrolle, denn die Ehefrauen der Geistlichen waren alle jünger als sie. Sie hatte eingeführt, dass keine von ihnen ein zweites Mal Vorsitzende eines Komitees werden konnte. Sie durften ein wenig an Verwaltungserfahrung sammeln, aber nicht genug, um sich eine Vertrauensbasis zu schaffen, eine Anhängerschaft zu gewinnen oder ihre Tätigkeit so sehr zu genießen, dass sie sich freiwillig für mehr meldeten. Mrs. Willett überwachte im ganzen Land den Lehrplan der Sonntagsschulen und den Aufbau aller neuen Missionen einschließlich der Gebäude. Alle Programme für Senioren, alle Wohltätigkeitsveranstaltungen, alle Kirchenausflüge und Ehrungen mussten von ihr abgesegnet werden. Sie kontrollierte alles außer der Kleidung der Geistlichen und deren Ehefrauen, aber das machte sie wett, indem sie haarklein vorschrieb, was Reverend Willett anzuziehen hatte - von Kopf bis Fuß, einschließlich seiner grauen Socken und der Unterhosen. Sie war so damit beschäftigt, in Gartenkomitees und Vereinigungen zur Auswahl der Chorgewänder mitzuwirken und Monate im voraus irgendwelche Feiertagsessen zu planen, dass sie wirklich nicht viel Mühe darauf verwenden konnte, ein heimatloses Aborigine-Baby unterzubringen. Sie würde es aufs Land verfrachten lassen und sich später darum kümmern. Aber um ihren Ruf aufrechtzuerhalten, musste sie Alice Enright gegenüber als hundertprozentig tüchtig erscheinen.
    Sie wies ihren Mann an, das Kind noch am gleichen Tag zu taufen. Das konnte im Spülbecken in der Küche geschehen. Sie sah keinen Grund, einen christlichen Namen an einen Wilden zu verschwenden, und so entschied sie sich für Geoff. Das war neutral genug. Ein Familienname würde später dazukommen, falls es sich jemals als notwendig erwiese. Meistens tat es das nicht. Aborigines hatten nichts mit juristischen Angelegenheiten zu schaffen. Reverend Willett sprach die Gebete und goss Wasser über das leblose Köpfchen des Babys. Keiner der Erwachsenen wusste, warum es kaum eine Reaktion zeigte. Der Geistliche hatte es eilig. Er trug die
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