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Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende
Autoren: Marlo Morgan
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eindrucksvollen, fünf Meter hohen Drahtzauns, der oben mit Stacheldraht versehen war, befand sich ein elektronisch funktionierendes Tor. Wenn der Besucher dieses durchschritten hatte, erreichte er einen weiteren Zaun mit Tor. Die Lücke zwischen den beiden Zäunen war rechts und links vollständig mit Rollen messerscharfen Drahts ausgefüllt, der über einem Zementboden mit schmalen Wasserrinnen glänzte. Diese Rinnen sollten offenbar die elektrische Leitfähigkeit des Drahts verstärken. Das Gebäude, das vor Bea lag, war in blassem Apfelgrün gestrichen.
    Im Inneren des Gebäudes wurde sie um ihren Pass gebeten und musste sich anhand des Fotos identifizieren lassen. Sie trug sich in das Besucherverzeichnis ein und reichte dem Diensthabenden den Erlaubnisschein, den sie per Post erhalten hatte. Als sie das Papier aus der Tasche nahm, bemerkte sie den Stempel in der linken Ecke: »Todestrakt«. Der Wachmann starrte auf das Foto und dann auf Beas Gesicht, ehe er sie endlich einließ. »Wieso steht hier >Todestrakt    Vielleicht ist er durch irgendeinen Zufall noch am Leben, aber eigentlich sollte er das nicht sein.« Mit dem gleichen nüchternen Gesicht wies er sie an, ihm ihre Handtasche zu geben, Gürtel und Schuhe abzulegen und ihre Fußsohlen zu zeigen. Dann musste sie alles aus den Taschen ihres Kleides herausnehmen und sämtliche Metallgegenstände abgeben, die sie bei sich trug. Schließlich wurde sie noch von einem schwitzenden Wachmann mit strengem Gesicht, der mehr als dreihundert Pfund wog, mit flachen Händen abgetastet. Der Mann konnte sich kaum vorbeugen, weshalb die Suche nicht sehr gründlich war. Dann wies man sie an, alle ihre Habseligkeiten in einen Spind einzuschließen und den Schlüssel und ihre Schuhe in den nächsten Raum zu bringen. Nachdem sie die Türen durchschritten hatte, betrat sie einen langen Gang, der auf halbem Weg zum Ausgang einen Drahtkäfig aufwies. Es handelte sich um einen Metalldetektor, den sie passieren musste. Danach durfte sie ihre Schuhe wieder anziehen.
    Als die Ausgangstür aufgesperrt worden war, kam sie in einen weiteren langen Gang und folgte einem neuen Wachmann um mehrere Ecken, bis sie schließlich einen Raum mit einer Trennwand in der Mitte erreichten. Diese Trennwand bestand oben aus Plexiglas, unten aus stabilem Metall. In Abständen von etwas mehr als eineinhalb Meter gab es jeweils eine Ablage, davor stand ein Stuhl; auf der anderen Seite der Trennwand stand ebenfalls ein Stuhl. Auf der Ablage stand ein Telefon. Man konnte also von Angesicht zu Angesicht mit den Häftlingen sprechen, aber nur per Telefon.
    »Vier«, murmelte der Wachmann, und Bea ging zu dem vierten Stuhl. Sie hatte sich gerade hingesetzt, als sich auf der anderen Seite des Raums eine Tür öffnete und Geoff Marshall eintrat, an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt.
    Der Raum war grau, der Boden aus Zement, die Wände aus Stein, die Decke schmutzig. Von den Fassungen der Glühbirnen blätterte die Farbe ab. Geoff hatte diesen Raum vor dreißig Jahren zum letzten Mal gesehen; seither hatte niemand mehr versucht, den Gefangenen Nr. 804781 zu sprechen.
    Bea saß bereits, als sich die Tür öffnete. Geoffs erstes Gefühl war Enttäuschung. Er hätte es lieber gehabt, wenn sie gestanden hätte. Es war so lange her, dass er eine Frau gesehen hatte, dass er sich danach sehnte, sie mit einem langen Blick von Kopf bis Fuß mustern zu können. Sie wirkte schwer. Ihr rundes, pausbäckiges Gesicht und ihre breite, flache Nase sowie die schwarzen Augen sahen ganz ähnlich aus wie das, was er erblickte, wenn er gelegentlich in einen Spiegel schaute. Sie war aus Australien gekommen, und sie gehörte derselben Rasse an wie er, also nahm er an, dass sie in Ordnung wäre. Was hatte er erwartet? Ein langbeiniges, schlankes, knappbekleidetes Fotomodell? Ja, davon hatte er geträumt.
    Er hatte jahrelang davon geträumt, Besuch zu bekommen, und als man ihm sagte, dass Bea eine Besuchserlaubnis beantragt habe, hatte er sich in Gedanken die Frau seiner Träume vorgestellt und sich über zwei Monate auf diesen Augenblick gefreut. Die Tatsache, dass sie in einem ihrer Briefe geschrieben hatte, sie sei genauso alt wie er, hatte er verdrängt. Es war viel angenehmer, sich eine junge, schöne Besucherin vorzustellen. In dem Moment, in dem sie ihn sah, lächelte sie und stand auf.
    »Hallo«, sagte sie und nickte immer wieder mit dem Kopf.
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