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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade
Autoren: Bruce Chatwin
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als eine Aborigine-Version der ersten beiden Kapitel der Genesis ansehen – mit einem entscheidenden Unterschied.
    In der Genesis erschuf Gott zuerst die »lebenden Dinge«, und dann formte er Vater Adam aus Lehm. Hier in Australien erschufen sich die Ahnen selbst aus Lehm, zu Hunderten und Tausenden, je einen für jedes totemistische Wesen.
    »Wenn also ein Aborigine Ihnen sagt: ›Ich habe einen Wallaby-Traum‹, will er damit sagen: ›Mein Totem ist das Wallaby. Ich bin ein Mitglied des Wallaby-Klans.‹«
    »Ein Traum ist also ein Klan-Emblem? Eine Art Abzeichen, das ›uns‹ von ›ihnen‹ unterscheidet? ›Unser Land‹ von ›ihrem Land‹?«
    »Das geht noch sehr viel weiter«, sagte er.
    Jeder Wallaby-Mensch glaubte, von einem universalen Wallaby-Vater abzustammen, der der Ahne aller Wallaby-Menschen und aller lebenden Wallabys war. Wallabys waren daher seine Brüder. Eins zu töten, um es zu verzehren, war sowohl Brudermord als auch Kannibalismus.
    »Und doch«, beharrte ich, »war der Mensch nicht mehr ein Wallaby, als die Briten Löwen, die Russen Bären oder die Amerikaner Weißkopf-Seeadler sind?«
    »Jede Spezies kann ein Traum sein«, sagte er. »Ein Virus kann ein Traum sein. Man kann einen Windpocken-Traum haben, einen Regen-Traum, einen Wüstenorangen-Traum, einen Läuse-Traum. Auf dem Kimberley-Plateau haben sie jetzt einen Geld-Traum.«
    »Und die Waliser haben Lauch, die Schotten Disteln, und Daphne wurde in einen Lorbeerbaum verwandelt.«
    »Immer dieselbe alte Geschichte«, sagte er.
    Er fuhr fort, mir zu erklären, daß jeder totemistische Ahne auf seiner Reise durch das Land eine Spur von Wörtern und Noten neben seinen Fußspuren ausgestreut habe und daß sich diese Traumpfade wie Verkehrs-»Wege« zwischen den am weitesten auseinanderliegenden Stämmen über das ganze Land hinzögen.
    »Ein Lied«, sagte er, »war gleichzeitig Karte und Kompaß. Wenn man das Lied kannte, konnte man immer seinen Weg durch das Land finden.«
    »Und wanderte ein Mann beim ›Walkabout‹ immer an einer dieser Songlines entlang?«
    »In den alten Zeiten, ja«, stimmte er zu. »Heutzutage nehmen sie den Zug oder das Auto.«
    »Und wenn der Mann von seiner Songline abwich?«
    »Das war Betreten fremden Bodens. Dafür konnte er mit dem Speer getötet werden.«
    »Aber solange er sich an seinen Pfad hielt, fand er immer Menschen, die seinen Traum teilten? Die in Wirklichkeit seine Brüder waren?«
    »Ja.«
    »Von denen er Gastfreundschaft erwarten konnte?«
    »Und umgekehrt.«
    »Ein Lied ist also eine Art Paß, ein Gutschein für eine Mahlzeit?«
    »Auch das ist komplizierter.«
    Zumindest theoretisch konnte ganz Australien wie eine Partitur gelesen werden. Es gab kaum einen Felsen oder einen Bach im Land, der nicht gesungen werden konnte oder gesungen worden war. Man mußte sich die Songlines wie Spaghetti aus Iliaden und Odysseen vorstellen, die sich hierhin und dorthin schlängelten, wobei jede »Episode« den geologischen Formen abzulesen war.
    »Unter Episode verstehen Sie ›heilige Stätte‹?« fragte ich.
    »So ist es.«
    »Stätten wie die, die Sie zur Zeit für die Eisenbahngesellschaft vermessen?«
    »Sie müssen es so sehen«, sagte er. »Überall im Busch können Sie auf irgendeine Stelle in der Landschaft zeigen und den Aborigine an Ihrer Seite fragen: ›Was für eine Geschichte ist das?‹ oder: ›Wer ist das?‹ Es ist möglich, daß er ›Känguruh‹ oder ›Wellensittich‹ oder ›Eidechse‹ antwortet, je nachdem, welcher Ahne diesen Weg gegangen ist.«
    »Und die Entfernung zwischen zwei solcher Stätten kann als Abschnitt des Lieds gemessen werden?«
    »Deshalb«, sagte Arkady, »habe ich so viele Schwierigkeiten mit den Leuten von der Eisenbahn.«
    Es war nicht leicht, einen Vermesser davon zu überzeugen, daß ein Haufen Flußsteine die Eier einer Regenbogenschlange oder ein rötlicher Sandsteinbrocken die Leber eines mit dem Speer erlegten Känguruhs war. Schwerer noch war es, ihm einsichtig zu machen, daß eine öde Schotterlandschaft die musikalische Entsprechung zu Beethovens Opus 111 war.
    Indem sie die Welt ins Dasein sangen, sagte er, seien die Ahnen Dichter in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes poesis gewesen, das »Schöpfung« besage. Kein Aborigine könne sich vorstellen, daß die erschaffene Welt in irgendeiner Weise unvollkommen sei. Sein religiöses Leben hatte nur ein Ziel: das Land so zu erhalten, wie es war und wie es sein sollte. Ein Mann, der »Walkabout«
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