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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade
Autoren: Bruce Chatwin
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ging, machte eine rituelle Reise. Er folgte den Fußspuren seines Ahnen. Er sang die Strophen seines Ahnen, ohne ein Wort oder eine Note zu ändern – und erschuf so die Schöpfung neu.
    »Manchmal«, sagte Arkady, »wenn ich meine ›alten Männer‹ durch die Wüste fahre und wir zu einer Kette von Sandhügeln kommen, fangen sie plötzlich alle an zu singen. ›Was singt ihr Leute da?‹ frage ich sie, und sie antworten: ›Wir singen das Land herbei, Boß. Dann kommt das Land schneller.‹«
    Aborigines konnten nicht glauben, daß das Land existierte, bevor sie es sehen und singen konnten – wie auch das Land in der Traumzeit nicht existierte, bevor die Ahnen es sangen.
    »Das Land muß also zuerst als Vorstellung im Kopf existieren?« sagte ich. »Und dann gesungen werden? Erst dann kann es als existent bezeichnet werden?«
    »Richtig.«
    »Mit anderen Worten, ›existieren‹ bedeutet ›wahrgenommen werden‹?«
    »Ja.«
    »Hört sich verdächtig nach Bischof Berkeleys Widerlegung der Materie an.«
    »Oder wie der Buddhismus des reinen Denkens«, sagte Arkady, »für den die Welt ebenfalls eine Illusion ist.«
    »Dann ist es also so, daß diese dreihundert Meilen Stahl, die zahllose Songs durchschneiden, zwangsläufig das psychische Gleichgewicht Ihrer ›alten Männer‹ erschüttern werden?«
    »Ja und nein«, sagte er. »Sie sind in emotionaler Hinsicht sehr stark, und sie sind sehr pragmatisch. Außerdem haben sie weitaus Schlimmeres erlebt als die Eisenbahn.«
    Aborigines glaubten, daß alle »lebenden Dinge« im verborgenen unter der Erdkruste gemacht worden waren, wie auch alle Maschinen des weißen Mannes – seine Flugzeuge, seine Gewehre, seine Toyota-Landcruiser – und alle Erfindungen, die man noch erfinden würde; sie schlummerten unter der Oberfläche und warteten, bis sie gerufen wurden.
    »Vielleicht können sie die Eisenbahn in die erschaffene Welt Gottes zurücksingen?« schlug ich vor.
    »Da können Sie sicher sein«, sagte Arkady.

4
    E s war nach fünf. Das Abendlicht harkte in die Straße hinunter, und durch das Fenster sahen wir eine Gruppe schwarzer Jugendlicher in karierten Hemden und Cowboyhüten, die sich unter den Flamboyants ruckartig auf das Pub zubewegten.
    Die Kellnerin räumte die Speisereste ab. Arkady wollte noch einen Kaffee, aber sie hatte die Maschine bereits abgestellt. Er sah in seine leere Tasse und zog die Stirn in Falten.
    Dann blickte er hoch und fragte schroff: »Warum interessieren Sie sich für all das? Was wollen Sie hier?«
    »Ich bin hierhergekommen, um eine Idee zu testen«, sagte ich.
    »Eine große Idee?«
    »Wahrscheinlich eine Idee, die auf der Hand liegt. Aber eine, die ich loswerden muß.«
    »Also?«
    Sein plötzlicher Stimmungsumschwung machte mich nervös. Ich begann zu erklären, wie ich einmal erfolglos versucht hatte, ein Buch über Nomaden zu schreiben.
    »Hirtennomaden?«
    »Nein«, sagte ich. »Nomaden. ›Nomos‹ bedeutet ›Weideland‹ im Griechischen. Ein Nomade zieht von Weideland zu Weideland. Ein Hirtennomade ist ein Pleonasmus.«
    »Eins zu null für Sie«, sagte Arkady. »Erzählen Sie weiter. Warum Nomaden?«
    Als ich Mitte Zwanzig war, sagte ich, hatte ich eine Stellung als »Experte« für moderne Malerei in einer bekannten Auktionsfirma. Wir hatten Verkaufsräume in London und New York. Ich war einer von den cleveren jungen Leuten. Es hieß, ich hätte eine große Karriere vor mir, wenn ich meine Trümpfe nur richtig ausspielen würde. Eines Morgens wachte ich auf und war blind.
    Im Laufe des Tages konnte ich auf dem linken Auge wieder sehen, aber das rechte blieb trüb und umwölkt. Der Augenarzt, der mich untersuchte, sagte, organisch sei alles in Ordnung, und diagnostizierte die Ursache des Übels.
    »Sie haben Bilder aus allzu großer Nähe betrachtet«, sagte er. »Warum tauschen Sie sie nicht gegen ein paar weite Horizonte?«
    »Warum nicht?« sagte ich.
    »Wohin würden Sie gern gehen?«
    »Nach Afrika.«
    Der Präsident der Firma sagte, er sei überzeugt, daß mit meinen Augen etwas nicht in Ordnung sei, aber er verstehe nicht, warum ich nach Afrika gehen müsse.
    Ich ging nach Afrika, in den Sudan. In dem Augenblick, als ich am Flughafen eintraf, waren meine Augen wieder gesund.
    Ich segelte auf einer Feluke von Händlern bei Dongola den Nil hinunter. Ich ging zu den »Äthiopiern«, was ein Euphemismus für Bordell war. Ich konnte gerade noch einem tollwütigen Hund entkommen. In einer Klinik, die nicht genügend
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