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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade
Autoren: Bruce Chatwin
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fragte ich mich, ob die Archäologie selbst nicht vielleicht verflucht sei.
    Wenn in Stratford am Nachmittag schönes Wetter war, gingen Tante Ruth und ich mit ihrem Cockerspaniel Amber, der an seiner Leine zerrte, den Weg, der Tante Ruth zufolge Shakespeares Lieblingsspazierweg gewesen war. Wir begannen in der College Street, gingen am Getreidesilo und dem schäumenden Mühlgerinne vorbei, weiter über den Steg über den Avon und folgten dem Pfad nach Weir Brake.
    Weir Brake war ein Haselnußwäldchen an einem Hang, der zum Fluß hin abfiel. Im Frühling blühten dort Primeln und Glockenblumen. Im Sommer war es ein Gestrüpp aus Nesseln, Dornsträuchern und Blutweiderich, unter dem das schlammige Wasser plätscherte.
    Meine Tante versicherte mir, dies sei die Stelle, wo Mr. Shakespeare mit einer jungen Dame ein »Stelldichein« gehabt habe. Genau an diesem Ufer habe der wilde Thymian geblüht. Aber sie sagte nie, was ein Stelldichein war, und ich mochte noch so angestrengt suchen, ich fand dort weder Thymian noch Schlüsselblumen, wenn ich auch ein paar nickende Veilchen entdeckte.
    Viel später, als ich Mr. Shakespeares Stücke endlich gelesen hatte und endlich wußte, was ein Stelldichein war, kam mir in den Sinn, daß Weir Brake viel zu schlammig und zu dornig war, als daß Titania und Zettel sich dort niedergelassen hätten, doch daß es eine ausgezeichnete Stelle für Ophelia war, um den Sprung zu tun.
    Tante Ruth las gern Shakespeare vor, und an Tagen, wenn das Gras trocken war, ließ ich meine Beine am Ufer baumeln und lauschte ihrem Vortrag: »Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist …«, »Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang …«, oder: »Fünf Faden tief liegt Vater dein …«
    »Fünf Faden tief …« regte mich schrecklich auf, weil mein Vater noch auf See war. Ich hatte einen anderen, ständig wiederkehrenden Traum: daß sein Schiff gesunken war, daß mir Kiemen und ein Fischschwanz wuchsen und ich zu ihm hinunter auf den Meeresboden schwamm und die Perlen erblickte, die einst seine hellblauen Augen gewesen waren.
    Ein oder zwei Jahre später brachte mir meine Tante – zur Abwechslung nach so viel Mr. Shakespeare – einen eigens für Reisende zusammengestellten Gedichtband mit dem Titel The Open Road mit. Er hatte einen grünen Leineneinband, und auf dem Deckel war ein Schwarm goldener Schwalben abgebildet.
    Ich liebte es, Schwalben zu beobachten. Wenn sie im Frühling eintrafen, wußte ich, daß meine Lungen bald vom grünen Schleim befreit sein würden. Im Herbst, wenn sie schwatzend auf den Telegrafendrähten saßen, konnte ich beinahe die Tage bis zum Inhalierapparat zählen.
    The Open Road enthielt schwarzweiße Vorsatzblätter im Stil von Aubrey Beardsley, auf denen sich ein heller Pfad durch einen Kiefernwald schlängelte. Eines nach dem andern lasen wir jedes Gedicht in dem Buch.
    Wir standen auf und gingen nach Innisfree. Wir sahen die für den Menschen unermeßlichen Höhlen. Wir wanderten, einsam wie eine Wolke. Wir schmeckten die ganze Blüte des Sommers, weinten um Lycidas, standen tränenüberströmt im fremden Korn und lauschten der schrillen, lockenden Musik Walt Whitmans:
     
    O Straße du,
Du drückst mich besser aus, als ich es selbst vermöchte,
Du sollst mir mehr sein als mein Lied.
    Einmal erzählte mir Tante Ruth, daß unser Familienname einmal »Chettewynde« gewesen war, was im Angelsächsischen »der gewundene Pfad« bedeutete; und mir prägte sich die Vorstellung ein, daß Poesie, mein eigener Name und der Pfad, daß alle drei auf irgendeine geheimnisvolle Weise miteinander verbunden seien.
    Von den Gutenachtgeschichten war mir die Erzählung von dem jungen Coyoten in Ernest Thompson Setons Lives of the Hunted die liebste.
    Coyotito war die kleinste aus einem Wurf, dessen Mutter von dem Cowboy Wolver Jake erschossen worden war. Ihre Brüder und Schwestern wurden totgeschlagen, ihr eigenes Leben jedoch geschont, damit Jakes Bullterrier und Windhunde ihren Zeitvertreib hatten. Ihr Bild, wie sie in Ketten lag, stellte die traurigste kleine Hundeperson dar, die ich je gesehen hatte. Und doch entwickelte sich Coyotito zu ei nem klugen Tier, und eines Morgens, nachdem sie sich tot gestellt hatte, riß sie in die Wildnis aus: um dort eine neue Generation von Coyoten in die Kunst einzuweisen, den Menschen aus dem Weg zu gehen.
    Ich kann die Folge von Assoziationen heute nicht mehr aneinanderreihen, die mich veranlaßten, Coyotitos Freiheitsdrang mit dem »Walkabout«, der
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