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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade
Autoren: Bruce Chatwin
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ich.
    Er wollte soeben damit beginnen, als ein Aborigine-Mädchen mit einem Stapel Akten hereinkam. Es war eine Sekretärin, ein geschmeidiges braunes Mädchen in einem braunen Strickkleid. Sie lächelte und sage: »Hallo, Ark!«, aber ihr Lächeln erlosch, als sie den Fremden erblickte.
    Arkady senkte die Stimme. Er hatte mich schon vorher darauf aufmerksam gemacht, wie sehr die Aborigines es hassen, wenn sie Weiße über ihre »Angelegenheiten« sprechen hören.
    »Dies ist ein Engländer«, sagte er zur Sekretärin. »Ein Engländer mit dem Namen Bruce.«
    Das Mädchen kicherte mißtrauisch, ließ die Akten auf den Tisch fallen und stürzte zur Tür.
    »Gehen wir einen Kaffee trinken«, sagte er.
    Und so gingen wir zu einem Coffee-Shop in der Todd Street.

2
    I n meiner Kindheit hörte ich das Wort »Australien« nie, ohne daß ich an die Eukalyptusdämpfe des Inhalierapparats und an ein endloses, von Schafen bevölkertes rotes Land denken mußte.
    Mein Vater erzählte gern – und wir hörten gern – die Geschichte von dem australischen Schafmillionär, der in London in einen Vorführraum von Rolls-Royce schlenderte, alle kleineren Modelle verschmähte, sich für eine enorme Limousine mit einer gläsernen Trennwand zwischen Chauffeur und Fahrgästen entschied und beim Hinblättern des Bargelds arrogant hinzufügte: »Jetzt werden mir die Schafe nicht länger in den Nacken blasen können.«
    Von meiner Großtante Ruth wußte ich außerdem, daß Australien das Land war, wo die Menschen mit dem Kopf nach unten gingen. Ein Loch, von England geradeaus durch die Erde gebohrt, würde unter ihren Füßen aufplatzen.
    »Warum fallen sie nicht um?« fragte ich.
    »Schwerkraft«, flüsterte sie.
    Sie hatte in ihrer Bibliothek ein Buch über diesen Kontinent, und ich starrte verwundert auf Bilder vom Koalabären und vom Lachenden Hans, vom Schnabeltier und vom tasmanischen Buschteufel, vom alten Känguruhmann und dem gelben Dingohund und von der Hafenbrücke von Sydney.
    Aber am besten gefiel mir das Bild, das eine Aborigine-Familie auf Wanderschaft darstellte. Es waren magere, knochige Menschen, und sie gingen nackt. Ihre Haut war sehr schwarz, nicht das glänzende Schwarz von Negern, sondern ein mattes Schwarz, als hätte die Sonne jede Möglichkeit der Spiegelung aufgesogen. Der Mann hatte einen langen gegabelten Bart und trug einen Speer oder zwei und eine Speerschleuder. Die Frau trug ein dilly-bag – einen Tragebehälter – und ein Baby an ihrer Brust. An ihrer Seite ging ein kleiner Junge – und mit ihm identifizierte ich mich.
    Ich erinnere mich an die fantastische Heimatlosigkeit meiner ersten fünf Lebensjahre. Mein Vater war bei der Kriegsmarine, auf See. Meine Mutter und ich reisten mit der Eisenbahn kreuz und quer durch das vom Krieg gezeichnete England und besuchten Verwandte und Freunde.
    All die wahnsinnige Unruhe der damaligen Zeit teilte sich mir mit: der zischende Dampf auf einem nebelverhüllten Bahnhof, das zweimalige Klu-unk der sich schließenden Zugtüren, das Dröhnen von Flugzeugen, die Scheinwerfer, die Sirenen; die Klänge einer Mundharmonika auf einem Bahnsteig voller schlafender Soldaten.
    Unser Zuhause, soweit wir eines hatten, war ein stabiler schwarzer Koffer, Zauberkoffer genannt, in dem es eine Ecke für meine Kleidung und meine Mickymaus-Gasmaske gab. Ich wußte, daß ich, sobald die Bomben fielen, mich in dem Zauberkoffer zusammenrollen konnte und in Sicherheit war.
    Manchmal lebte ich monatelang bei meinen beiden Großtanten in ihrem Reihenhaus hinter der Kirche von Stratford-on-Avon. Sie waren alte Jungfern.
    Tante Katie war Malerin und war viel gereist. In Paris war sie auf einer sehr halbseidenen Party im Atelier von Kees van Dongen gewesen. Auf Capri hatte sie die Melone eines Mr. Uljanow gesehen, die die Piccola Marina entlang auf- und abhüpfte.
    Tante Ruth war nur einmal in ihrem Leben gereist, nach Flandern, um einen Kranz auf das Grab eines geliebten Menschen zu legen. Sie war ein einfacher, zutraulicher Mensch. Ihre Wangen waren hellrosarot, und sie konnte so süß und unschuldig erröten wie ein junges Mädchen. Sie war sehr taub, und ich mußte immer in ihren Hörapparat brüllen, der wie ein Kofferradio aussah. Neben ihrem Bett stand eine Fotografie von ihrem Lieblingsneffen, meinem Vater, der gelassen unter dem Lackschirm seiner Marineoffiziersmütze hervorblickte.
    Die Männer in der Familie meines Vaters waren entweder solide, seßhafte Bürger – Rechtsanwälte,
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