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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade
Autoren: Bruce Chatwin
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Architekten, Altertumsforscher – oder horizontsüchtige Wanderer gewesen, deren Gebeine in allen Winkeln der Erde verstreut lagen: Cousin Charlie in Patagonien, Onkel Victor in einer Goldgräbersiedlung in Yukon, Onkel Robert in einem orientalischen Hafen, Onkel Desmond, der mit dem langen blonden Haar, war spurlos in Paris verschwunden, und Onkel Walter hatte in einem Hospital für heilige Männer in Kairo auf seinem Sterbebett Suren aus dem glorreichen Koran gesungen.
    Manchmal hörte ich, wie meine Tanten über diese verkorksten Existenzen sprachen; dann drückte Tante Ruth mich an sich, als wollte sie verhindern, daß ich in ihre Fußstapfen trat. Doch aus der Art, wie sie bei Wörtern wie »Xanadu«, »Samarkand« oder »weinrote See« verweilte, konnte man schließen, daß auch sie die Unruhe des »Wanderers in ihrer Seele« spürte.
    Das Haus stand voller klobiger Möbel, ein Erbe aus der Zeit der hohen Plafonds und der Dienstboten. Im Salon gab es William-Morris-Vorhänge, ein Klavier, eine Vitrine mit Porzellan und ein Ölgemälde mit Muschelsammlern, das Tante Katies Freund A.E. Russell gemalt hatte.
    Mein meistgehüteter Besitz war damals eine Muschelschale mit Namen Mona, die mein Vater von den Westindischen Inseln mitgebracht hatte. Ich drückte mein Gesicht an ihre rosaglänzende Öffnung und lauschte dem Rauschen der Brandung.
    Eines Tages, nachdem Tante Katie mir einen Druck von Botticellis Geburt der Venus gezeigt hatte, betete und betete ich darum, daß aus Mona eine schöne blonde junge Dame hervorkäme.
    Tante Ruth schimpfte nie mit mir, außer einem einzigen Mal, an einem Abend im Mai 1944, als ich ins Badewasser pinkelte. Ich dürfte eines der letzten Kinder auf der Welt sein, denen noch mit dem Geist Bonapartes gedroht wurde. »Wenn du das noch einmal tust«, rief sie, »kommt Boney dich holen.«
    Wie Boney aussah, wußte ich von seiner Porzellanfigur in der Vitrine: schwarze Stiefel, weiße Breeches, goldene Knöpfe und ein schwarzer Zweispitz. Aber die Zeichnung, die Tante Ruth für mich anfertigte – nach dem Vorbild einer anderen Zeichnung, die ein Freund ihres Vaters, Lawrence Alma-Tadema, für sie gemacht hatte, als sie ein Kind war –, zeigte den pelzigen Zweispitz nur auf zwei spindeldürren Beinen.
    In derselben Nacht und in den darauffolgenden Wochen träumte ich, daß ich Boney auf dem Platz draußen vor dem Pfarrhaus begegnete. Er öffnete sich wie eine zweischalige Muschel in zwei Hälften. Innen waren Reihen von schwarzen Reißzähnen und eine Masse von drahtigem blauschwarzem Haar – in die ich hineinfiel, bevor ich schreiend aufwachte.
    Freitags gingen Tante Ruth und ich zur Pfarrkirche, um sie für den Sonntagsgottesdienst herzurichten. Sie polierte die Messinggeräte, staubte das Chorgestühl ab, wechselte die Altardecke aus und stellte frische Blumen auf den Altar, während ich auf die Kanzel kletterte oder imaginäre Gespräche mit Mr. Shakespeare führte.
    Mr. Shakespeare blickte von der Höhe seines Standbilds im nördlichen Teil des Altarraums herab. Er war ein kahlköpfiger Mann mit einem hochgezwirbelten Schnurrbart. Seine linke Hand ruhte auf einer Schriftrolle, und seine rechte Hand hielt einen Federkiel.
    Ich ernannte mich zum Wächter seiner Grabstätte, spielte den Führer und verlangte von den G.I.s drei Pennies pro Rundgang. Die ersten Verse, die ich auswendig lernte, waren die vier Zeilen, die in seinen Grabstein eingraviert waren:
    Du guter Freund, tu’s Jesus zu Gefallen
    Und wühle nicht im Staub, der hier verschlossen.
    Gesegnet sei der Mann, der schonet diese Steine,
    Und jeder sei verflucht, der stört meine Gebeine.
    Lange Zeit danach, in Ungarn, wo ich mich aufhielt, um die Archäologie von Nomaden zu studieren, hatte ich das Glück, bei der Öffnung des Grabes einer Hunnen-»Prinzessin« zugegen zu sein. Das Mädchen lag auf dem Rükken, auf schwarze Erde gebettet, die mürben Knochen von einem Regen goldener Plättchen bedeckt, und quer über ihrer Brust lag mit ausgebreiteten Schwingen das Skelett eines Goldadlers.
    Einer der Ausgräber rief ein paar Bäuerinnen herbei, die auf dem Feld in der Nähe Heu machten. Sie ließen ihre Rechen fallen, drängten sich um die Graböffnung und bekreuzigten sich mit schwerfälligen Handbewegungen, als wollten sie sagen: »Laßt sie in Ruhe. Laßt sie mit ihrem Liebhaber allein. Laßt sie mit Zeus allein.«
    »Und jeder sei verflucht …« Mir war, als hörte ich Mr. Shakespeare rufen, und zum erstenmal
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