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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade
Autoren: Bruce Chatwin
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die meinen keinen Anfang und kein Ende hatten.
    Ich schlief in schwarzen Zelten, in blauen Zelten, in Zelten aus Häuten und in Jurten aus Filz und hinter einem Windschutz aus Dorngestrüpp. Eines Nachts, von einem Sandsturm in der West-Sahara überrascht, verstand ich Mohammeds Ausspruch: »Eine Reise ist ein Stück der Hölle.«
    Je mehr ich las, um so stärker wurde meine Überzeugung, daß Nomaden der Angelpunkt der Geschichte gewesen waren, und sei es auch nur aus dem Grund, daß alle großen monotheistischen Religionen aus dem Hirtenmilieu hervorgegangen waren …
    Arkady blickte aus dem Fenster.

5
    E in zerbeulter roter Lastwagen war auf den Gehsteig gefahren und parkte dort. Fünf schwarze Frauen saßen zusammengekauert auf der Ladefläche, zwischen einem Berg von Bündeln und Benzinkanistern. Ihre Kleider und Kopftücher waren mit Staub bedeckt. Der Fahrer war ein stämmiger Mann mit einem Bierbauch und einem fettigen Filzhut, der tief über seinen wirren Haarschopf gezogen war. Er lehnte sich aus der Tür der Fahrerkabine und begann, die Passagiere anzuschreien. Dann stieg ein spindeldürrer alter Mann aus und zeigte auf einen Gegenstand, der zwischen den Bündeln steckte.
    Eine der Frauen reichte ihm ein in eine durchsichtige Plastikhülle gewickeltes, röhrenförmiges Ding. Der alte Mann nahm es entgegen, und als er sich umdrehte, erkannte Arkady ihn.
    »Das ist mein alter Freund Stan«, sagte er. »Aus Popanji.«
    Wir gingen auf die Straße hinaus, und Arkady umarmte Old Stan, und Stan sah aus, als hätte er Angst, entweder er oder das Ding in Plastik könnten zerdrückt werden, und als Arkady ihn losließ, wirkte er geradezu erleichtert.
    Ich stand auf der Türschwelle und beobachtete sie.
    Der alte Mann hatte trübe, rote Augen und trug ein schmutziges gelbes Hemd, und sein Bart und seine behaarte Brust sahen wie Rauch aus.
    »Was hast du denn da, Stan?« fragte Arkady.
    »Ein Bild«, sagte Stan mit einem hilflosen Lächeln.
    »Was willst du damit machen?«
    »Verkaufen.«
    Stan war ein Ältester der Pintupi. Der stämmige Mann war Stans Sohn Albert. Die Familie war in die Stadt gekommen, um eins von Stans Bildern an Mrs. Lacey zu verkaufen, die Inhaberin von Desert Bookstore and Art Gallery.
    »Komm her.« Arkady schnippte mit dem Daumen gegen das Paket. »Laß es uns sehen!«
    Doch Old Stan zog die Mundwinkel herab, seine Finger umklammerten das Bild, und er murmelte: »Zuerst muß ich es Mrs. Lacey zeigen.«
    Der Coffee-Shop schloß. Das Mädchen hatte die Stühle auf die Tische gestellt und saugte den Teppich. Wir bezahlten und gingen nach draußen. Albert lehnte am Lastwagen und sprach mit den Frauen. Wir gingen über den Gehsteig zum Buchladen.
    Die Pintupi waren der letzte »wilde Stamm«, der aus der Westlichen Wüste herausgeholt und mit der Zivilisation der Weißen bekannt gemacht wurde. Bis zum Ende der fünfziger Jahre hatten sie nach wie vor vom Jagen und Sammeln nackt in den Sandbergen gelebt, genau so, wie sie mindestens zehntausend Jahre lang gejagt hatten.
    Sie waren ein sorgloses, aufgeschlossenes Volk, nicht den strengeren Initiationsriten der seßhafteren Stämme unterworfen. Die Männer jagten Känguruhs und Emus. Die Frauen sammelten Samen, Wurzeln und eßbare Maden. Im Winter nahmen sie Zuflucht hinter einem Windschutz aus Spinifex; und noch in der sengenden Hitze hatten sie meistens Wasser. Ein Paar kräftige Beine schätzten sie höher ein als alles andere, und sie lachten unentwegt. Die wenigen Weißen, die mit ihnen wanderten, waren erstaunt, daß ihre Babys so dick und gesund waren.
    Die Regierung vertrat jedoch die Ansicht, daß diese Steinzeitmenschen gerettet werden müßten – im Notfall für Christus. Außerdem wurde die Westliche Wüste für Bergbauunternehmungen gebraucht, möglicherweise für Kernwaffenversuche. Es erging der Befehl, die Pintupi in Armeelastwagen zu sammeln und sie auf regierungseige nen Farmen anzusiedeln. Viele wurden nach Popanji gebracht – eine Siedlung westlich von Alice Springs –, wo sie an Seuchen starben, mit den Männern anderer Stämme stritten, zur Flasche griffen und sich gegenseitig erstachen.
    Selbst in Gefangenschaft erzählen Pintupi-Mütter wie alle guten Mütter auf der ganzen Welt ihren Kindern Geschichten über die Entstehung der Tiere: Wie der Ameisenigel seine Stacheln bekam … Warum der Emu nicht fliegen kann … Warum die Krähe so glänzend schwarz ist … Und so wie Kipling seine Just-So-Stories mit eigenen
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