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Traumjäger (German Edition)

Traumjäger (German Edition)

Titel: Traumjäger (German Edition)
Autoren: Ulrike Talbiersky
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ich mit Spannung gewartet hatte. Doch nun wäre es mir lieber gewesen, es wäre nicht mehr dunkel geworden. Denn mit der Finsternis wurde es kalt, und ich zitterte. Auch vor Angst. Dasselbe Lichtlein flackerte an der Galeriewand auf. Die Neugierde – Tom nennt sie die ewige Siegerin im Zweikampf gegen die Vernunft (und ich glaube, auch damit hat er Recht!) – die Neugierde trieb mich zu dem Bild. Gespannt und mit trockenem Mund sah ich, wie sich hinter den Vorhängen der Schatten bewegte. Ein langer, grauer Schatten. Er kam direkt auf das Fenster zu! Ich hielt den Atem an. Langsam schob er die Gardine zurück und –
    Ich taumelte einige Schritte zurück, stolperte und fiel auf den staubigen Boden. Ungläubig und starr vor Schreck verfolgte ich, wie eine Hand sich tastend aus dem Bild schob. Eine graue, knöcherne Hand mit dürren, langen Fingern. Daraufhin erschien ein Kopf, dann die ganze Gestalt.
    Nie werde ich diesen Anblick vergessen. Ich versuche, nicht daran zu denken, aber manchmal sehe ich es noch immer genau vor mir: Ein großer, schlanker Mann entwich dem Bild. Er richtete sich drohend in voller Größe vor mir auf. Seine Gestalt war in einen weiten, schwarzen Umhang gehüllt. Das ebenfalls schwarze, schulterlange Haar umrahmte lose und kraftlos sein graues Gesicht. Lange blickte der Fremde mich aus seinen unheimlichen, ja, farblosen Augen an. Diese Augen kannten keine Freude, kannten kein Mitleid. Ich rutschte unwillkürlich auf dem Boden zurück. Nichts wollte ich jetzt sehnlicher als von hier verschwinden. Weg von diesem unheimlichen Raum, weg von diesem rätselhaften Bild und vor allem: weg von dieser schrecklichen, maskenhaften Gestalt!
    Kennt ihr das Gefühl, das man in schlimmen Träumen hat: dass man wegrennen möchte, doch die Beine sind zu schwer? Dass man schreien möchte, doch kein Ton entweicht? So ging es mir in diesem Augenblick, als die schwarze Gestalt auf mich zukam. Nur, ich war mir diesmal nicht sicher, ob es tatsächlich nur ein Traum war! Bedrohlich nahe stand der Schattenmann jetzt vor mir, beugte sich über mich. Trotz meiner Furcht bemerkte ich erschrocken, dass seine starren, leeren Augen nicht einmal zwinkerten. Plötzlich streckte er seine Hand nach mir aus. Nein! dachte ich und duckte mich rasch unter der Berührung hindurch. Niemals sollte diese Hand mich zu fassen bekommen! War denn niemand da, der mir helfen konnte? Ich hatte solche Angst!
    Ein weißer Blitz erhellte den Saal. Ich hob den Arm vor meine Augen, so sehr blendete das Licht. Das Schattenwesen wich zischend zurück, so als hätte es sich an dem gleißenden Licht verbrannt. Und dann geschah etwas ganz Wunderbares: Von der gewölbten Decke herab schwebte ein leuchtender Falke. Weißes Licht verströmten die gespreizten Federn seiner weiten Schwingen, das die unerbittliche Dunkelheit vertrieb. Er schwebte direkt auf mich zu. Auf einmal fühlte ich, dass ich keine Angst mehr haben musste. Ich spürte die vollkommene Wärme und Geborgenheit, die die Anwesenheit des schönen Vogels mit sich brachte. Der Falke stieß einen lauten Schrei aus. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Schattenmann hastig zurück in das Bild, zurück in das Häuschen floh und die Vorhänge sicher zuzog. Das Kerzenlicht erlosch.
    Der Falke schwebte dicht über meinem Kopf. Seine leuchtenden Federn streiften sanft mein Haar. „Danke!“, rief ich. Der Falke stieß einen weiteren Schrei aus und ließ aus seinen Krallen ein kleines zusammengefaltetes, dunkelblaues Zettelchen auf meinen Schoß fallen. Noch immer kauerte ich auf dem harten, staubigen Steinboden. Ich umschloss es mit meiner Hand. Dann schwang der Falke sich erneut in die Höhe, kreiste eine Weile würdevoll an der Decke und verschwand so plötzlich wie er gekommen war.

    ***

    Zitternd tastete meine Hand nach der Nachttischlampe und knipste das Licht an. Wieder lag ich schweißnass im Bett. Puh! Ich wischte mir über Stirn und Augen. Was für ein Traum! Ein Albtraum! Zum Glück war der Falke gekommen. Er hatte mir so viel Angst genommen, und ich war so dankbar, dass er erschienen war. Gerade im rechten Moment! Ich versuchte, nicht daran zu denken, was geschehen wäre, wenn er mich nicht gerettet hätte.
    Die Zeiger meines Weckers standen auf Viertel vor Zwölf. Draußen war es stockfinster. Ich lauschte. Im Haus war es ruhig. Meine Eltern waren wohl zu Bett gegangen. Gerade wollte ich die Bettdecke wieder weit über meine Nasenspitze ziehen, als ich ein zerknülltes Papier in meiner
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