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Trauerweiden

Trauerweiden

Titel: Trauerweiden
Autoren: Wildis Streng
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Hand hing, mit einer geradezu beängstigenden Leichtigkeit hoch, in Richtung Brüstung. Das Kind hob vom Boden ab, und seine Beine schlenkerten hin und her, Halt suchend, wie bei einem Gehenkten. Heiko und Lisa wechselten einen schnellen Blick, und dann krachte der Schuss. Annabella stürzte zu Boden und erstarrte zu einem Paket aus Furcht. Lisa war mit wenigen Schritten bei ihr, die Mutter der Mädchen immer im Blick. Elke Schuster war als wimmerndes Häuflein in sich zusammengesunken und hielt sich schluchzend die blutende Schulter. Schnell schnappte Lisa die Kleine und brachte sie zum Vorsprung, zu ihrer Schwester. Darauf erwachte die ältere aus ihrer Lethargie, legte die Arme um die jüngere und zog sie an sich. Heiko war inzwischen schon bei der Frau und hielt sie mit der Knarre in Schach. Da dämmerte es ihm plötzlich, dass es wohl wenig Sinn hatte, jemanden, der sich das Leben nehmen wollte, mit der Pistole zu bedrohen. Und tatsächlich. Elke Schuster lächelte ihn selig an, rappelte sich hoch, drehte sich um und wollte ganz offensichtlich doch noch über das Geländer springen. Die Mädchen stimmten ein schrilles Kreischen an. »Mama, nicht!«, rief Annabella. Heiko packte den verletzten Arm der Frau und drehte ihn auf den Rücken. Handschellen klickten, und Elke Schuster brach nun vollständig zusammen.
     
    Mario Schuster stürmte das Revier. »Wo sind sie?«, fragte er Lisa, und seine Stimme klang panisch.
    Diese wies lächelnd in ihr Büro. »Sie sind wohlauf, Herr Schuster.«
    Der Vater betrat das Büro, entdeckte seine beiden Töchter und sprang auf sie zu. Die Mädchen flohen in seine Arme. Schuster begann zu weinen, erleichtert, unablässig streichelte er die Köpfe seiner Mädchen, küsste sie und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Dann, endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, die aber diesmal schön war, ließ er von ihnen ab.
    »Könnte ich kurz mit Ihnen alleine reden?«, fragte er dann, an Heiko gewandt.
    Lisa nahm die Kinder an den Händen und führte sie nach draußen. Die Tür schloss sich. Heiko wies auf Lisas Bürodrehstuhl, und Schuster setzte sich.
    »Wie geht es meiner Frau?«, fragte er dann, so leise, als hätte er vor der Antwort Angst.
    »Ich musste ihr in die Schulter schießen«, sagte Heiko in entschuldigendem Tonfall. »Ansonsten geht es ihr den Umständen entsprechend gut. Aber … sie hat wohl ein größeres Problem … mental, meine ich.«
    Schuster nickte langsam. »Sie war es, nicht?«
    Heiko nickte.
    »Das hatte ich befürchtet.« Schuster saß eine Minute bewegungslos da, seufzte dann tief und sagte: »Ich hoffe, wir kriegen das in den Griff.«
    »Das hoffe ich auch.«
    »Jedenfalls, danke, dass Sie meine Kinder gerettet haben. Und meine Frau.«
    »Ist schon okay.«
    »Hm.«
    »Hm.«
    »Na dann, bis bald.«
    »Ja, bis bald.«

Sonntag, 27. Oktober
    Heiko freute sich. Aber nicht, weil er in der Tanzstunde war. Doch, irgendwie schon. Denn heute war die letzte Übungseinheit. Fast drei Wochen lang hatte er sich durch die südamerikanischen Rhythmen gequält, immer hoffend, dass dieser eine Tag kommen würde, diese eine Stunde, die letzte Stunde. »Lo hacen muy bien«, lobte Juan, »sehr gut, meine Herrschaften.« Heiko führte Lisa zu einer Promenade, drehte sie und zelebrierte mit ihr schließlich eine Brezeldrehung. Hunger hatte er auch. Lisa schmiegte sich beim Caricia innig an ihn und seufzte tief, als sie wieder in den Grundschritt verfielen, die Körper eng aneinandergedrückt.
    »Haben wir doch gut hinbekommen, oder?«, meinte sie.
    »Hm?«
    »Na, die Tanzstunden.«
    »Ach so, ich dachte, du meinst den Fall.«
    »Den Fall auch.«
    »Letztes Lied«, rief Pedro, und Juan forderte seine Schäfchen auf, dieses Musikstück ganz besonders zu genießen.
    Das brauchst du mir nicht zu sagen, dachte Heiko bei sich. »Die Schuster wird sicher in Behandlung kommen. Die spinnt doch«, sinnierte Heiko zur Merengue »El Talisman«.
    »Wer weiß. Die Grenzen zwischen pedantisch und irr sind fließend«, gab Lisa zu bedenken. Heiko winkte ab. »Die spinnt, das ist sonnenklar.«
    »Jedenfalls. Gut, dass wir den Fall gelöst haben, nicht?«
    »Hm.« Heiko drehte Lisa in einer mehrfachen Pirouette. Er genoss das letzte Lied, oh ja. Und das wäre garantiert das letzte Mal, dass er tanzte, definitiv.
    »Die letzten Takte, Seniores«, mahnte Juan. »Gozanlo, gozan.«
    Heiko genoss. Und wie. Dann, endlich, war es vorbei, und alle applaudierten und bedankten sich mit einem sehr
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