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Trapez

Trapez

Titel: Trapez
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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anderen Ende des Zimmers saß Mario an der Kommode und schrieb auf Hotelpapier. Tommy rieb sich die Augen und fragte: »Wem schreibst du denn? Die ganze verdammte Familie ist doch hier, nicht?«
    »Hauptsächlich an Johnny und Stella. Wir konnten gestern Abend nicht reden. Ich will alles schriftlich haben.
    Nur falls es nötig ist.«
    Als Tommy ging, war der Papierkorb gefüllt mit zerknüllten Entwürfen und Mario hatte sich noch nicht rasiert. Auf einem der losen Blätter konnte Tommy in Marios kritzeliger Schrift Liebe Liss lesen, aber er sagte nichts.
    »Geh schon vor, Tom, sag ihnen, ich komme gleich! In Kalifornien ist es fast sechs. Ich möchte da mal anrufen.
    Und dann, glaube ich, ruf e ich mal in Stellas Zimmer an, damit sie herkommt und dies unterschreibt, bevor ich runtergehe.«
    Tommy stand da, mit einer Hand am Türknauf und fühlte sich hilfloser als je zuvor. Ihm fiel nichts ein, was er sagen konnte, das keinen von Marios Wutanfällen hervorrufen würde, und Mario, dem die Qual seines Lebens bevorstand – denn, was auch daraus werden würde, die Tricksequenz war schwierig und gefährlich – konnte sich keine weitere Belastung für seine ohnehin schon strapazierten Nerven leisten. Tommy ging allein frühstücken und machte sich dann gleich zum ›Garden‹ auf.
    Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte es ihn gefreut, den Star-Umkleideraum zugeteilt bekommen zu haben, den gleichen, den normalerweise der Boxchampion im Schwergewicht hatte. Jetzt streifte es kaum die Oberfläche seiner Gedanken.
    Er betrachtete sein ungewohntes Gesicht im Spiegel, als die Maskenbildner aus ihm ein annäherndes Abbild von Reggie Parrish machten, mit dem Schnauzbart, der früher das Markenzeichen des Fängers war. Obwohl er so sehr mit anderen Dingen beschäftigt war, beobachtete er die Veränderung mit Neugier und Interesse. Aber er fühlte sich seltsam seiner Persönlichkeit beraubt. Er wu ss te nicht mehr, wer er war. Gab es Tommy Zane überhaupt? War er völlig in Tommy Santelli aufgegangen? Er war weder ganz er selbst noch irgendwie so wie Reggie Parrish. War da überhaupt jemand im Spiegel? Wer war das fremde Gesicht dort?
    Ein Fänger. Irgendein Fänger. Nein, nicht irgendein Fänger. Marios Fänger, der, wie Reggie Parrish vor ihm, eine fürchterliche Verantwortung trug.
    Sein Leben liegt in meinen Händen.
    Aber das war schon immer so. Auf dem Trapez liegt das Leben aller in den Händen von allen. Das habe ich immer gewu ss t. Warum fällt es mir jetzt so plötzlich ein?
    Bart Reeders Worte über Selbstmord unter ihresgleichen kamen ihm wieder in den Sinn. Mario konnte so etwas nicht vorhaben. Nicht bewu ss t. Er mochte Angelo gegenüber beißende Bemerkungen über die Kirche machen, und er ging auch nicht mehr zur Beichte, aber im Inneren, dort, wo es darauf ankam, war Marios Gewissen rein katholisch. Gewisse Dinge änderten sich nie.
    Nein, er hat keinen Selbstmord vor. Aber vielleicht hofft er darauf. Tommy durchfuhr es eiskalt, als er sich dabei ertappte, wie er dachte: Vielleicht wäre es für uns beide das Beste .
    Nein. Solche Gedanken konnte er sich nicht leisten.
    Nicht eine Minute lang. Nicht eine Sekunde lang. Ich muss etwas tun. Aber, lieber Gott, was kann ich tun? Er war einem echten Gebet noch nie so nah gewesen wie jetzt.
    Mario kam zu spät, später, als ein Santelli je gekommen wäre. Er und Stella kamen in ihren Kostümen frisch aus der Maske zu Tommy an den Fuß des Trapezaufbaus, nur wenige Augenblicke bevor die Beleuchter mit den Licht-Doubeln fertig waren. Angelo, der auf dem Fliegertrapez saß und sanft vorund zurückschaukelte, trug auch das Silberweiß der ParrishTruppe . Und Tommy bemerkte erstaunt, dass sein Haar ebenfalls hellblond wie das der Zweitbesetzung gebleicht war. Er rief dem Beleuchter zu: »Okay, das genügt. Beweg die Stange auch nicht nur einen halben Zoll, sonst mache ich dich dafür verantwortlich!« Er rollte sich über das Trapez und ließ sich sauber, aber ohne Schnörkel ins Netz fallen. Er watete zum Rand und sprang hinunter.
    »Guten Abend, Signor Mario. Es wird langsam Zeit, dass du auftauchst.«
    »Bin ja schon da.«
    Mario fummelte mit dem Verband an seinem Handgelenk herum und Tommy sagte: »Hier, la ss mich das machen. Das kriegst du nie fest genug.« Er beugte sich hinunter und ihm fiel ein, dass er sich hieran am häufigsten während seiner Armeejahre erinnert hatte, an die kleine Routinearbeit vor der Vorstellung, wenn er sich vergewisserte, ob Marios
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