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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz
Autoren: authors_sort
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Cro-Magnon-Jäger aussahen.
    Ein paar Minuten lang versuchte ich, mit den Kindern über Fußball zu plaudern. Wie sich herausstellte, war Claudia ein wahrer Fußballfan; sie hatte demnächst sogar ein Probespiel bei ihrem örtlichen Profi-Verein. Aber die Unterhaltung war wie üblich angestrengt und höflich, eine Formalität, als wäre ich ein Schulinspektor.
    Wir waren alle vorsichtig. Vor ein paar Jahren hatte ich mir zu Weihnachten einen Fauxpas geleistet, als ich ihnen Päckchen geschickt hatte, adressiert an Sven und Claudia Poole. Nach der Scheidung meiner Eltern hatte meine Mutter wieder ihren Mädchennamen angenommen, so wie ich. John jedoch hatte nach seinem Auszug wieder den Namen meines Vaters angenommen, Bazalget – ich hatte nie erfahren, warum, irgendein Streit mit meiner Mutter –, und darum waren die beiden offiziell Bazalgets. John hatte die Angewohnheit, mich bei familiären Anlässen wegen solcher Sachen anzublasen und damit den Tag zu ruinieren und allen die Stimmung zu verderben.
    Ich hatte gelernt, Vorsicht walten zu lassen. Wir sind eine ungewöhnliche Familie. Oder vielleicht auch nicht.
    Ich erinnerte mich daran, wie ich bei Onkel Georges Besuchen immer zu ihm gelaufen war. Aber George hatte uns ja auch immer Geschenke mitgebracht. Kluger Mann. Natürlich waren diese Kinder nicht deshalb so nichts sagend, weil sie in mir einen unsensiblen Onkel hatten. Es waren Glückskinder, und so waren Glückskinder nun mal. Ich hatte nie auch nur gewagt, Johns diesbezügliche Entscheidungen zu kritisieren.
    John wedelte mit seinem Pinsel. »Ich muss weitermachen. Und du solltest jetzt mal zu Mom reinschauen«, sagte er, als hätte ich es hinausgeschoben.
    Also ging ich wieder zur Vorderseite des Hauses, nahm meinen Rucksack und klopfte an die Tür.
     
    Die Haustür war ausgebleicht von der gnadenlosen Sonne, und hier und dort schälten sich die Schindeln ab, die Nägel verrosteten und lösten sich. Das Haus war jedoch nicht in schlechtem Zustand. Die Nano-Farbe, die John so eifrig auftrug, war ein silbriger Firnis über cremefarbenen alten Glanzlackschichten.
    Meine Mutter öffnete die Fliegentür. »Du bist es«, sagte sie, trat zurück und hielt mir die Tür auf, wobei sie den Blick abwandte und zu Boden schaute. Ich stieg über verfaulte Sandsäcke hinweg und lieferte pflichtgemäß den Kuss ab, den sie erwartete; ihre Haut war verschrumpelt, ledrig und warm wie geschmolzene Butter.
    Sie bot mir an, mir eine Tasse Tee zu machen, und ging durch die Diele voran. Wir kamen an der alten Standuhr vorbei, die sie aus England mitgebracht hatte. Sie tickte noch immer mit imperialer Entschlossenheit vor sich hin, obwohl die Welt, der sie entstammte, so gut wie verschwunden war.
    Meine Mutter war eine stockdürre Frau mit kerzengerader Haltung, steif und von einer fragilen Energie beseelt. Sie war immer noch schön, so weit man das von einer Neunzigjährigen überhaupt sagen kann. Sie hatte sich nie das Haar gefärbt, und es war allmählich weiß geworden, aber selbst jetzt wirkte ihr zurückgebundenes Haar glanzvoll, weich und lichterfüllt.
    In der Küche hatte sie die Ingredienzien für frische Limonade auf den Arbeitsflächen ausgelegt. Sie machte mir Tee, heiß, stark und mit Milch, im englischen Stil, und setzte sich zu mir an den Frühstückstisch. Wir tranken unseren Tee in wachsamem Schweigen. Ich genoss den Tee natürlich, obwohl ich selbst ihn nur selten trank; er brachte meine Kindheit zurück.
    Ich hatte meine Mutter nicht vernachlässigt. Aber ich hatte sie in der Regel nur bei ihren gelegentlichen, betont aufopferungsvollen Wallfahrten gesehen, wenn sie mich und Morag bei uns zu Hause besuchte, oder später, nach Morags Tod, in meiner kleinen Wohnung in New Jersey, oder aber in den Ferien in Johns Wohnung in dem Sandsteinhaus hinter den Deichen von Manhattan. Diese Reisen waren im Lauf der Jahre jedoch immer seltener geworden; Mutter pflegte zu sagen, sie wisse nicht genau, woran es liege – entweder werde sie alt oder die Welt oder beide.
    Sie eröffnete die Feindseligkeiten. »Ich nehme an, John hat dich hergeholt.«
    »Er hat sich Sorgen gemacht.«
    »Du hättest nicht zu kommen brauchen«, sagte sie naserümpfend. »Und er auch nicht. Ich bin neunzig. Aber ich bin nicht alt. Ich bin nicht hilflos. Ich bin nicht verrückt. Und ich ziehe nicht aus.«
    Ich verzog das Gesicht. »Du hast noch nie lange um den heißen Brei herumgeredet, Mom.«
    Sie war weder verärgert noch geschmeichelt, und
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