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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz
Autoren: authors_sort
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Traum nach; je tiefer man sich auf ihn konzentriert, desto mehr schmilzt er dahin.
    Mittlerweile habe ich mir Folgendes zusammengereimt: Die Transzendenz ist unsere Zukunft – oder jedenfalls eine Zukunft. Eine ferne Zukunft. Die Transzendenten hatten sich zu etwas unvorstellbar Machtvollem entwickelt (oder werden es tun). Und nun standen sie auf der Schwelle, kurz vor dem Sprung zu etwas ganz und gar Neuem. Danach würden sie einen Zustand erreichen, den wir für Göttlichkeit halten würden – oder sie würden sich einem Feind geschlagen geben, von dem ich kaum auch nur einen flüchtigen Blick erhascht habe. So oder so würden sie nicht mehr menschlich sein.
    Aber momentan, diesseits der Schwelle, waren sie noch menschlich. Und sie wurden von einer sehr menschlichen Trauer geplagt, einer Trauer, die überwunden werden musste, bevor sie ihre Menschlichkeit endgültig ablegten. In diesen seltsamen inneren Konflikt war ich hineingezogen worden.
    Meine Arbeit zur Abwehr der Klimakatastrophe ist allgemein bekannt. Aber niemand weiß, dass ich mit etwas viel Größerem zu tun hatte: mit den Qualen eines im Entstehen begriffenen übermenschlichen Geistes der fernen Zukunft, der kulminierenden Logik unseres kollektiven Schicksals.
    Die Zukunft, die sich in die Gegenwart zurückfaltet. Jener Zehnjährige am Strand hätte es wahrscheinlich toll gefunden, wenn er es gewusst hätte. Im Rückblick ängstigt es mich auch jetzt noch zu Tode.
    Aber vermutlich war ich schon damals mit den Gedanken woanders gewesen. Denn ich hatte an jenem Strand etwas noch viel Bemerkenswerteres gesehen als ein startendes Raumschiff.
     
    Die Frau, die manchmal zum Strand kam, war schlank und hoch gewachsen, mit langen, rotblonden Haaren. Sie winkte und lächelte mir immer zu, und manchmal rief sie etwas zu mir herüber, aber wegen des Wellenrauschens und des Möwengeschreis konnte ich ihre Worte nie verstehen. Sie schien sich immer am Rand des Wassers aufzuhalten, und die Sonne stand jedes Mal so tief, dass ihr Licht das Meer sprenkelte wie brennendes Öl und ich die Augen zusammenkneifen musste, um die Frau zu sehen – oder sie tauchte an einer anderen, gleichermaßen problematischen Stelle auf, verborgen vom Licht.
    Als ich noch klein war, besuchte sie mich gelegentlich, nicht regelmäßig, vielleicht einmal im Monat. Ich hatte nie Angst vor ihr. Sie wirkte immer freundlich. Manchmal, wenn sie mir etwas zurief, winkte ich zurück, oder ich rief auch etwas, aber das Rauschen der Wellen war stets zu laut. Ein paar Mal lief ich ihr nach, aber es ist sehr anstrengend, in weichem, nassem Sand zu laufen, selbst wenn man erst zehn ist. Auch wenn ich noch so schnell rannte, ich schien nie näher an sie heranzukommen. Und sie zuckte die Achseln und trat zurück, und wenn ich den Blick abwandte, war sie fort.
    Erst viel später fand ich heraus, wer sie war und wie wichtig sie einmal für mich sein würde.
    Onkel George hat sie nicht gesehen, als er dieses eine, einzige Mal am Strand einen Raumschiffstart beobachtet hat. Ich wünschte, er hätte es getan. Ich hätte gern mit ihm darüber gesprochen. Mit zehn wusste ich nicht viel über Geister; jetzt weiß ich nur wenig mehr. George wusste vieles, und er war ein aufgeschlossener Mensch. Vielleicht hätte er mir eine simple Frage beantworten können: Kann man von Geistern verfolgt werden, die nicht aus der Vergangenheit kommen, sondern aus der Zukunft?
    Die mysteriöse Frau am Strand, die während meiner gesamten Kindheit und Jugend in unregelmäßigen Abständen zu mir kam, war nämlich mein erster Besuch aus der Zukunft. Es war Morag, meine tote Frau.
    Die Zukunft, die sich in die Gegenwart zurückfaltet.

 
2
     
     
    Das Mädchen aus der Zukunft hieß Alia.
    Sie war auf einem Sternenschiff geboren, fünfzehntausend Lichtjahre von der Erde entfernt. Sie lebte eine halbe Million Jahre nach Michael Pooles Tod. Und dennoch wuchs sie praktisch mit Michael und all seinen Angehörigen auf.
    Sie hatte sein Leben beobachtet, fast seit ihre Mutter und ihr Vater sie aus den Geburtsbehältern heimgebracht hatten, als ihre Hände und Füße noch nichts anderes hatten greifen können als das Fell auf der Brust ihrer Mutter und die Welt ein undifferenzierter Ort aus hellen, leuchtenden Formen und lächelnden Gesichtern gewesen war. Michael Poole war schon damals für sie da gewesen, von Anfang an.
    Doch nun war sie fünfunddreißig, fast alt genug, um als Erwachsene zu gelten. Michael Poole war ein Relikt aus der
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