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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz
Autoren: authors_sort
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Kindheit, sein kleines Leben wie eine Lieblingsgeschichte, die sie sich wieder und wieder anhörte. Immer, wenn sie Trost suchte, wandte sie sich ihm zu. Aber er war ein kleiner, sentimentaler Teil ihrer Welt; seine Geschichte lag im Beobachtungstank versteckt und blieb manchmal tagelang unbeachtet.
    Alias derzeitige Lieblingsbeschäftigung war das Skimmen.
     
    Sie traf ihre Schwester im Maschinenraum, in den tiefsten Eingeweiden der Nord, wo ungeschlachte, anonyme Maschinen in stahlgrauem Licht aufragten. Die Schwestern standen sich gegenüber und lachten in freudiger Erwartung dessen, was gleich passieren würde.
    Drea war nackt, ebenso wie Alia; so konnte man am besten skimmen. Dreas von goldenen Haaren bedeckter Körper war hübsch proportioniert; ihre Arme waren nicht viel kürzer als ihre Beine, und mit ihren nicht ganz fingerlangen Zehen konnte sie Dinge greifen und manipulieren. Es war natürlich ein Körper, der für die Schwerelosigkeit und das Hochvakuum geschaffen war, die natürliche Umgebung der Menschheit, aber man glaubte, dass dieser Körperbau weitgehend dem der ursprünglichen Menschen auf der alten Erde glich. Drea war zehn Jahre älter als Alia. Die Schwestern sahen sich sehr ähnlich, aber Drea wirkte gesetzter und Alia ein wenig lockerer. Während sich das Licht änderte, glitten Mehrfachlider über Dreas Augen.
    Drea beugte sich vor, und Alia roch ihren frischen Atem. »Fertig?«
    »Fertig.«
    Drea fasste Alia an den Händen. »Drei, zwei, eins…«
    Plötzlich befanden sie sich im Landwirtschaftsdeck der Nord.
    Dies war eine hohe, dunstige Halle, durch deren Decke sich riesige Rohre und Leitungen herabschlängelten. Lampen warfen einen kühlen blauen Lichtschein, und grüne Pflanzen wuchsen in Hydrokulturtanks mit durchsichtigen Wänden. Die Nord war ein Sternenschiff, eine geschlossene Ökologie. Die großen Rohre beförderten Abwasser und verbrauchte Luft von den Wohndecks oben hierher und transportierten Nahrung, Luft und sauberes Wasser zurück.
    Alia atmete tief ein und aus. Nach der kalten, statischen Kargheit des Maschinenraums war sie auf einmal von der lebenssprühenden Wärme der »Farm« umgeben, wie sie diesen Raum nannten, und die gewaltigen Mengen an Flüssigkeit und Luft, die herein- und hinausgepumpt wurden, ließen die Bodenplatten dumpf vibrieren. Selbst die Schwerkraft fühlte sich hier auf subtile Weise anders an. Alia hatte nichts vom Skimmen gespürt: Während eines Skims verging keine Zeit, deshalb gab es auch keine Zeit für Sinneswahrnehmungen.
    Aber der Übergang selbst war sehr angenehm, ein Schwall neuer Empfindungen, als spränge man aus kalter Luft in ein Becken mit warmem Wasser.
    Und das war erst der Anfang.
    Dreas Augen glänzten. »Diesmal mit Sprung. Drei, zwei, eins…« Die Schwestern streckten die langen Zehen und segelten in die Luft hinauf, und am Scheitelpunkt ihres koordinierten Sprungs verschwanden sie abrupt.
    Weiter eilten die Schwestern, zu all den vielen Decks der Nord; sie materialisierten flimmernd in Parks, Schulen, Museen, Sporthallen und Theatern. Überall blieben sie nur ein paar Sekunden, gerade lange genug, um sich in die Augen zu schauen, sich über ihre nächste Aktion zu verständigen und diese mit einem Sprung, einer Pirouette oder einem Purzelbaum einzuleiten. Es war tatsächlich eine Art Tanz; die Herausforderung bestand darin, die Genauigkeit jedes Skims und die spiegelbildliche Präzision ihrer Positionen und Bewegungen bei jedem Auftauchen zu kontrollieren.
    Skimmen – willensgesteuerte Teleportation – war so leicht, dass kleine Kinder es lange vor dem Laufen lernten. Alias Körper bestand aus Atomen, die in Molekülen gebunden waren, aus elektrischen und Quantenunschärfe-Feldern. Alias Körper war sie. Aber ein Kohlenstoffatom war beispielsweise identisch mit einem anderen – absolut identisch in seiner Quantenbeschreibung – und konnte darum ausgetauscht werden, ohne dass sie etwas davon bemerkte. Sie war nur ein Ausdruck einer zeitweiligen Ansammlung von Materie und Energie, so wie Musik ein Ausdruck ihrer Partitur ist, ungeachtet des Mediums, in dem diese geschrieben ist. Für Alia spielte das allerdings überhaupt keine Rolle.
    Und wenn man es einmal begriffen hatte, war leicht einzusehen, dass sie, Alia, ebenso gut von einem Haufen Atome dort drüben wie hier herüben ausgedrückt werden konnte. Es war im Grunde nur eine Frage des Willens, der bewussten Entscheidung, mit freundlicher Unterstützung der Nanomaschinen
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