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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz
Autoren: authors_sort
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vor kurzem erneuert worden und wies nun einen hellen Mittelstreifen aus sich selbst erhaltender Silberdecke auf. Aber man sah, dass das Meer manchmal bis hierher kam: Im Rinnstein lagen getrocknete Tangbüschel, und die Telegrafenmasten waren am unteren Ende von Flutmarken gezeichnet. Der alte Gebäudebestand hatte sich verändert. Die in ihre zweitausend Quadratmeter großen Rasenflächen geschmiegten Holzhäuser, an die ich mich erinnerte, waren größtenteils verlassen und mit Brettern vernagelt; sie befanden sich in verschiedenen Stadien des Verfalls, oder sie waren – wie von Zauberhand in den Himmel gehoben – gänzlich von ihren nunmehr leeren Grundstücken verschwunden. Ein paar hatten gedrungenen Gussbeton-Blöcken mit kleinen Fenstern Platz gemacht: der moderne Stil, Festungen gegen Hurrikane, jede ein nahtloser, geschlossener Block, vom Dach bis zu den tief hinabreichenden Fundamenten. Nirgends sah man auch nur ein einziges Auto, und ich marschierte in tiefer Stille dahin. Auch dies ein krasser Unterschied zu meinen Kindheitserinnerungen: An einem vergleichbaren Dienstagnachmittag etwa des Jahres 2005 wären die Autos in einem endlosen Strom vorbeigeschnurrt.
    Die Luft war hell und dunstig, und die feuchte Hitze legte sich wie eine Decke auf mich. Binnen kurzem schwitzte ich und bereute meine Entscheidung, zu Fuß zu gehen. Überdies lag ein unangenehmer Geruch in der Luft, ein Gestank von salziger Fäulnis, als ob ein riesiges Meerestier am Strand verweste. Aber daran konnte es natürlich nicht liegen; im Meer gab es keine Tiere.
    Schließlich steuerte ich auf das Haus meiner Mutter, das Heim meiner Kindheit zu. Es gehörte zu den wenigen Häusern von früher, die noch standen. Aber es war von Haufen langsam zerfallender Sandsäcke umgeben. Überall im Garten schimmerten große elektrische Fliegengitter, die die Moskitos in Schach halten sollten, und auf dem Dach drehte sich träge eine wagenradförmige Hausturbine, die von der Brise kaum in Bewegung versetzt wurde.
    Und da kam auch schon mein großer Bruder um die Ecke des Hauses, in voller Lebensgröße, den Malerpinsel in der Hand. »Michael! Hast du dich also doch herbequemt.« Schon gleich ein Vorwurf, aber was konnte ich erwarten? John wischte sich die Handfläche ostentativ an seinem Overall ab, wobei er einen silbrigen Streifen hinterließ, und streckte mir seine riesige Pranke hin.
    Ich schüttelte sie vorsichtig. John ist ein großer, schwerer Mann, gebaut wie ein Football-Spieler. Schon immer hat er mich ein ganzes Stück überragt. Er ist ein paar Jahre älter als ich, und seine Haare lichten sich bereits; die braunen Augen in seinem breiten Gesicht sind hart. Ich komme, was das Gesicht betrifft, eher nach meiner Mutter, aber während sie ihr Leben lang hoch gewachsen und hübsch war, mit rauchgrauen Augen, bin ich klein und dunkelhaarig und habe einen Rundrücken. Die Leute finden manchmal, ich sei verbissen. In Wahrheit ähnele ich eher meinem Onkel George. Meine Mutter hat immer behauptet, ich erinnerte sie an England. Ich habe jedoch ihre grauen Augen geerbt, die in den schnell vergangenen Jahren, als ich beinahe attraktiv zu nennen war, gut aussahen.
    John schlägt nach unserem Vater. Wie immer schüchterte er mich ein.
    »Ich bin mit dem Flieger gekommen«, sagte ich lahm. »Ganz schöne Reise heutzutage.«
    »Ja, nicht wahr? Und heiß ist es auch. Kein gutes Wetter zum Arbeiten.« Er klopfte mir auf den Rücken, wobei er weitere Nano-Farbe und Schweiß über mein Hemd verteilte und auf diese Weise meine Wäsche und mein Gewissen ruinierte. Er führte mich hinters Haus. »Mom ist drin. Ich glaube, sie macht Limonade. Obwohl es manchmal schwer ist, genau zu sagen, was sie macht«, erklärte er mit verschwörerisch finsterer Miene. »Sag den Kindern guten Tag. Sven? Claudia?«
    Die beiden kamen ums Haus gelaufen. Sie hatten im Garten Fußball gespielt; ihr Ball rollte ihnen vorwurfsvoll hinterher und verlangte mit leisem Klingeln nach ihrer Aufmerksamkeit. Sie traten lächelnd vor mich hin, mit ausdruckslosem Blick. »Onkel Michael, hi.« – »Hallo.«
    Sven und Claudia, beide vor nicht allzu langer Zeit ins Teenageralter gekommen, waren große, hübsche, wohlgenährte Kinder mit dem gleichen blonden Haarschopf. Sie entstammten Johns kürzlich geschiedener Ehe mit einer Deutschen namens Inge. Beide besaßen den Teint ihrer Mutter, hatten jedoch etwas von der wuchtigen Körperfülle ihres Vaters. Ich fand immer, dass sie wie
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