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Transit

Transit

Titel: Transit
Autoren: Anna Seghers
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sträubten. So hatte ich nur als Kind gelesen, nein, zugehört. Ich fühlte dieselbe Freude, dasselbe Grauen. Der Wald war ebenso undurchdringlich. Doch war es ein Wald für Erwachsene. Der Wolf war ebenso böse, doch es war ein Wolf, der ausgewachsene Kinder betört. Auch mich traf der alte Bann, der in den Märchen die Knaben in Bären verwandelt hat und die Mädchen in Lilien, und drohte von neuem in dieser Geschichte mit grimmigen Verwandlungen. All diese Menschen ärgerten mich nicht durch ihre Vertracktheit, wie sie’s im Leben getan hätten, durch ihr blödes Auf-den-Leim-Gehen, durch ihr Hineinschlittern in ein Schicksal. Ich begriff ihre Handlungen, weil ich sie endlich einmal verfolgen konnte von dem ersten Gedanken ab bis zu dem Punkt, wo alles kam, wie es kommen mußte. Nur dadurch, daß sie der Mann beschrieben hatte, erschienen sie mir schon weniger übel, sogar der, der mir selbst aufs Haar glich. Sie waren schon alle klar und lauter, als hätten sie alle schon abgebüßt, als wären sie schondurch ein Fegefeuerchen durchgegangen, durch einen kleinen Brand, durch das Gehirn dieses toten Mannes. Und plötzlich, so in den dreihunderter Seiten, brach alles für mich ab. Ich erfuhr den Ausgang nie. Die Deutschen waren nach Paris gekommen, der Mann hatte alles zusammengepackt, seine paar Klamotten, sein Schreibpapier. Und mich vor dem letzten fast leeren Bogen allein gelassen. Mich überfiel von neuem die grenzenlose Trauer, die tödliche Langeweile. Warum hat er sich das Leben genommen? Er hätte mich nicht allein lassen dürfen. Er hätte seine Geschichte zu Ende schreiben sollen. Ich hätte bis zum Morgengrauen lesen können. Er hätte noch weiterschreiben sollen, zahllose Geschichten, die mich bewahrt hätten vor dem Übel. Wenn er mich rechtzeitig gekannt hätte! Nicht diesen Narren, das Paulchen, der mir alles eingebrockt hatte. Ich hätte ihn angefleht, am Leben zu bleiben. Ich hätte ihm ein Versteck gefunden. Ich hätte ihm Essen und Trinken gebracht. Jetzt aber war er tot. Zwei Schreibmaschinenzeilen auf dem letzten großen Bogen. Und ich allein! So elend wie zuvor.
    Den folgenden Tag vertrödelte ich damit, Paul zu suchen. Er war und blieb verschwunden. Vermutlich aus Furcht. Dabei war doch der Tote sein »Copain« gewesen, sein Kumpan. Mir fiel die Geschichte ein, die er mir erzählt hatte von dem Autokäufer am Kreuzweg. Na, dieser Paul war eigentlich auch ein ganz netter Imstichlasser! Am Abend kroch ich wieder sehr früh zurück in mein Loch, zurück zu meiner Geschichte. Diesmal erlebte ich eine Enttäuschung. Ich wollte noch einmal alles lesen, doch leider widerstand es mir. Ich hatte mir gleich beim erstenmal alles gierig eingeprägt. Ich hatte jetzt ebensowenig Lust, die Geschichte doppelt zu lesen, wie ich zweimal das gleiche Abenteuer erleben möchte, den gleichen Ablauf von Gefahren.
    Ich hatte also jetzt nichts mehr zu lesen, der Tote stand meinethalben nicht auf, seine Geschichte war unfertig und ich allein und verkommen in meinem Loch mit demHandkoffer. Ich stöberte darin herum. Ich fand ein Paar neue seidene Socken, ein paar Taschentücher, ein Kuvert mit ausländischen Briefmarken. Der Tote hatte offenbar diesen Tick gehabt. Nun, mag er ihn gehabt haben. Ein kleines, feines Etui mit Nagelfeilen, ein Lehrbuch der spanischen Sprache, ein leeres Parfümfläschchen, ich drehte es auf und schnupperte – nichts. Der Tote war wohl ein Kauz gewesen, er hatte ausgekauzt. Dann gab es auch noch zwei Briefe.
    Ich las sie aufmerksam durch. Doch glauben Sie mir, es war nicht gemeine Neugierde. Im ersten Brief teilte ihm jemand mit, daß seine Geschichte sehr schön zu werden verspreche und würdig aller Geschichten, die er im Leben geschrieben hatte. Doch leider drucke man jetzt im Krieg keine solchen Geschichten mehr. Im zweiten Brief schrieb eine Frau, die wohl seine eigene gewesen war, er möge sie nie mehr zurückerwarten, ihr gemeinsames Leben sei zu Ende.
    Ich steckte die Briefe zurück. Ich dachte: Kein Mensch hat seine Geschichten mehr haben wollen, die Frau ist ihm auch durchgegangen. Er war allein. Die ganze Welt brach zusammen, die Deutschen kamen nach Paris. Das war für den Mann zuviel. Da hat er Schluß gemacht. – Ich fing an, die aufgebrochenen Schlösser zurechtzubasteln. Ich wollte den Handkoffer wieder abschließen. Was sollte ich mit ihm anfangen? Die dreiviertel fertige Geschichte! Auf den Pont d’Alma gehn und ihn in die Seine werfen? Da hätte ich lieber ein Kind
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