Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Transit

Transit

Titel: Transit
Autoren: Anna Seghers
Vom Netzwerk:
werden, obwohl es frisch und neu war. Ich unterschied einen Adler auf einem Gestrüpp von Kakteen. Ich glaubte zunächst, auch dieses Haus sei unbewohnt. Doch als ich aus Pflichtgefühl abermals schellte, erschien in der inneren Tür auf der Treppe ein klobiger Mann, der mich mürrisch musterte mit einem einzigen Auge – die andere Augenhöhle war leer. Er war der erste Mexikaner meines Lebens. Ich betrachtete ihn neugierig. Auf meine Frage zuckte er nur mit den Achseln. Er sei nur der Hauswart, die Gesandtschaft sei in Vichy, der Konsul sei nicht zurückgekehrt, der Telegraf sei gesperrt. Er zog sich zurück. Ich stellte mir alle Mexikaner wie ihn vor, breit, schweigsam, einäugig, ein Volk von Zyklopen. Man müßte alle Völker der Erde kennen, träumte ich. Auf einmal tat mir der Tote leid, den ich bisher beneidet hatte.
    Ich ging in der nächsten Woche fast täglich auf das mexikanische Konsulat. Der Einäugige winkte mir immer schon von oben ab. Ich war wahrscheinlich für ihn ein Verrückter, mit meinem kleinen Handkoffer. Warum war ich so beharrlich? Aus Gewissenhaftigkeit? Aus Langeweile? Weil das Haus mich anlockte? Eines Morgens stand ein Auto vor dem Gitter. Vielleicht war der Konsul angekommen? Ich schellte wie ein Teufel. Mein Zyklop erschien auf der Treppe, doch diesmal rief er mir zornig zu, mich zu scheren, die Schelle sei nicht für mich da. Ich ging unschlüssig von einer Straßenecke zur anderen.
    Als ich mich noch einmal umdrehte, erlebte ich eine Überraschung. Das Auto stand immer noch vor dem Konsulat. Es wimmelte dort jetzt von Menschen. Und dieses Gewimmel war in drei Minuten entstanden, gleichsam hinter meinem Rücken. Ich weiß nicht, durch welchen Magnetismus sie angelockt worden waren, durch welche mystische Benachrichtigung. Sie konnten unmöglich alle aus der Umgebung sein. Wie aber waren sie nur herbeigeflogen? Sie waren Spanier, Männer und Frauen, verkrochen in den Winkeln der Stadt wie ich in dem meinen,nach einer Flucht wie der meinen. Nun war das Hakenkreuz auch hier über sie gekommen. Ich stellte ein paar Fragen. Ich erfuhr, was sie hergelockt hatte: ein Gerücht, eine Hoffnung, daß dieses entfernte Volk alle republikanischen Spanier aufnehmen würde. Es gebe auch bereits Schiffe im Hafen von Bordeaux, sie stünden jetzt alle unter mächtigem Schutz. Die Deutschen selbst könnten die Abfahrt nicht hindern. Ein alter, magerer, gelber Spanier sagte bitter, das alles sei leider Unsinn, es gebe zwar Visa, denn Mexiko habe jetzt eine Volksregierung, doch leider gebe es keine Sauf-conduit von den Deutschen. Im Gegenteil, die Deutschen hätten hier und in Brüssel Spanier gefangen und dem Franco ausgeliefert. Darauf rief ein anderer, der jung war, mit schwarzen runden Augen, die Schiffe lägen nicht in Bordeaux bereit, sondern in Marseille, sie lägen aber bereit. Er wußte sogar ihre Namen: »Republica«, »Esperanca«, »Passionaria«.
    Da kam mein Zyklop die Treppe herunter. Ich war verblüfft: er lächelte. Er war allein mit mir mürrisch gewesen, als sei ich hier nur ein Hochstapler. Er gab einem jeden von uns ein Papier, wobei er mit sanfter Stimme geduldig erklärte, wir müßten jetzt unsere Namen eintragen, damit wir der Reihe nach von dem Konsul empfangen würden. Er gab auch mir ein solches Papier, doch stumm und mit drohendem Blick. Wenn ich mich nur hätte einschüchtern lassen! Ich fand auf meinem Papier die Stunde, in der ich vorstellig werden sollte. Ich wählte aus Laune den Namen, den ich auch der Wirtin des Toten angegeben hatte. Mein eigener Name blieb aus dem Spiel.
    Ich war für den nächsten Montag bestellt, und um das Wochenende herum ereigneten sich in Paris ein paar Sachen, die auch für mich von Bedeutung waren. In Clichy hatten die Deutschen wie überall Plakate angeklebt, auf denen man sah, wie ein deutscher Soldat französischen Frauen hilft und sich der Kinder annimmt. In Clichy wurden diese Plakate in einer Nacht zusammengefetzt.Es gab ein paar Verhaftungen, darauf zum erstenmal einen Schwarm von Handzetteln gegen die Nazis. Man nennt diese kleinen Handzettel hierzulande Schmetterlinge. Der beste Freund unseres kleinen Binnet war in die Sache verwickelt worden, und Binnets bekamen Angst für die eigenen Jungen. Ihr Vetter Marcel schlug vor, eine Zeitlang ins unbesetzte Gebiet zu verschwinden. Die Söhne Binnets, Marcel und der Freund schlossen sich zusammen. Ihre Reisevorbereitungen steckten mich an. Ich hatte auf einmal nicht die geringste Lust mehr,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher