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Träume jenseits des Meeres: Roman

Träume jenseits des Meeres: Roman

Titel: Träume jenseits des Meeres: Roman
Autoren: Tamara McKinley
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sie es nicht wussten, sie brauchten sie mehr denn je.
    Mit trockenen Augen starrte sie auf das gegenüberliegende Ufer, während ihre Finger nach dem Stück Papier in ihrer Schürzentasche suchten. Millicents Abschiedsbrief hatte ihre Bürde nur noch vergrößert und ihre Entschlossenheit ins Wanken gebracht. Wie sich herausgestellt hatte, war das Mädchen alles andere als das unschuldige Opfer, an das Ernest glaubte, doch sie würde ihm die Illusion nicht rauben. Es war ein schrecklicher Brief, und sie war heilfroh, dass sie ihn gefunden hatte, denn sie konnte den Schaden nur ahnen, den er anrichten würde, wenn Ezra oder Ernest ihn in die Finger bekämen.
    Sie zog ihn aus der Tasche. Sie würde ihn noch einmal lesen und dann dem Feuer anheimgeben, wohin er gehörte. Das Gekritzel war fehlerhaft, die Grammatik fragwürdig, doch die Botschaft war so klar und besaß noch immer so viel Macht, dass ihr vor Verbitterung übel wurde. Mit zitternder Hand glättete Susan die Falten, und nachdem sie sich mit raschem Blick vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete, begann sie zu lesen.
    Kann ich Dich noch Freundin nennen, Susan?
    Oder hast Du mich nur aus einem verkorksten Pflichtgefühl bei Dir aufgenommen, nachdem Dir klar geworden war, wer ich bin? Florence hat mir von Deiner Affäre mit Lord Jonathan erzählt. Ich wollte nicht glauben, dass Du Ezra betrügen konntest, aber es erklärt, warum Florence so verbittert ist und warum Du mir ein Zuhause gegeben hast.
    Aber ich habe etwas zu beichten. Ich habe nicht nur Dich, sondern auch andere belogen. John Pardoe und ich waren ein Paar. Wir haben Seine Lordschaft sturzbetrunken gefunden, hingestreckt unter einem Baum, und John hat ihn zurück ins Haus getragen. Als ich feststellte, dass ich schwanger war, hat John Pardoe mich sitzen lassen. Er ist kurz danach fortgegangen, um eine Stelle auf einem Anwesen in Devon anzutreten. Ich wusste, man würde mich entlassen, sobald mein Zustand entdeckt würde, und meine Stiefmutter würde mich niemals aufnehmen. Ich habe etwas Schreckliches getan, Susan. Ich habe Seine Lordschaft beschuldigt und alles darauf gesetzt, dass er sich an die Nacht, in der wir ihn fanden, nicht mehr erinnern würde. Sein Ehrgefühl war mir schleierhaft, und ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe. Aber ich brauchte Geld, um über die Runden zu kommen. Seine Lordschaft hat mir aus lauter Freundlichkeit zwei Guineen geschenkt, und ich verstehe nicht, warum er vor Gericht behauptet hat, ich hätte sie gestohlen.
    Ich will Florences Geschichte über Deine Affäre mit ihm nicht glauben, denn sie verdreht gern die Wahrheit. Aber ich fürchte, diesmal ist sie ehrlich. Ich wünschte, Du wärst mir gegenüber offen gewesen, Susan, denn ich habe bei Dir und Ezra viel Trost und Glück erfahren. Ihr habt mir ein Zuhause voller Liebe und Geborgenheit gegeben, und dafür danke ich Euch.
    Bitte, vergib mir meine Lügen, so wie ich Dir vergebe.
    Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich schon tot. Sag Ernest, dass ich ihn liebe, und es tut mir leid, aber ich kann mich dieser Welt nicht länger stellen.
    Millicent.
    Trotz des warmen Tages überlief Susan ein kalter Schauer. Sie zerriss den Brief in kleine Stücke. Das Lügengespinst hatte sie alle eingefangen und ihr eigenes Urteilsvermögen herabgesetzt. Stockend atmete sie ein und zerknüllte die Überreste des Briefes in ihrer Faust. Florence war weit weg; sie lebte im Norden bei einer Missionarsgruppe. Wie gern hätte sie mit ihr geredet – um zu erklären und den Abgrund zwischen ihnen zu überbrücken. Nur zu gern hätte sie Jonathan gesagt, wie leid es ihr tat, dass sie an seiner Ehre gezweifelt hatte – sie hatte Florences Klatsch und Millicents Lügen geglaubt und ihn kurzerhand verurteilt.
    Sie beschirmte die Augen vor dem gleißenden Wasser, fest entschlossen, nicht zu weinen. Dass er ihren Namen in den Schmutz gezogen hatte, war durch nichts zu entschuldigen – dass er absichtlich ihre Liebe von früher zerstört und dass sein Vorgehen für ihren Mann und ihre Söhne schreckliche Folgen hatte. Das würde sie ihm nie verzeihen.
    Die Traurigkeit darüber machte ihr das Herz schwer. Millicents einzige Lüge hatte sie nach Australien und in ihr Leben gebracht. »Geheimnisse und Lügen«, flüsterte sie. »Wie eng sie binden – wie tückisch ist ihre Bosheit.«
    An den folgenden Tagen ging sie ihren Pflichten im Haus wie eine Schlafwandlerin nach. Das Haus war so still, erfüllt von Trauer und
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