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Totenwache - Thriller

Totenwache - Thriller

Titel: Totenwache - Thriller
Autoren: PeP eBooks
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Lebenden einzuräumen. Das ist Ihre Welt, nicht meine. Ich möchte, dass die Leute endlich begreifen, dass nicht jeder selbst darüber bestimmen kann, ob er seine Organe spendet, sondern dazu verpflichtet ist.«
    »Wollen Sie diesen Eltern vielleicht erzählen, dass es ihre Pflicht ist, Ihnen die Nieren ihrer kleinen Tochter als Organspende zu überlassen?«
    »Ich werde den Leuten genau das sagen, was nötig ist, um dieses Ziel zu erreichen«, entgegnete Julian.
    »Das ist moralisch und ethisch völlig inakzeptabel.«
    Julian lächelte. »Ich bin promovierter Bioethiker«, sagte er. »Möchten Sie gerne über Ethik diskutieren? Über die Frage, was in so einem Fall das höhere Gut ist? Ob es ethisch vertretbar ist, dass Eltern aus Unwissenheit oder Egoismus oder weil sie abergläubisch sind, völlig intakte Organe zugrunde gehen lassen? Oder ob es nicht besser wäre, mit diesen
Organen einem anderen Menschen das Leben zu retten? Was meinen Sie, Hochwürden? Was ist moralisch besser: wenn heute nur ein kleines Mädchen stirbt oder wenn gleich zwei kleine Mädchen sterben müssen?«
    Der Priester schwieg. Julian drehte sich um und zog die Tür auf.
    »Ich glaube, dass Sie ein Narr sind«, sagte der Priester.
    »Ich stehe für die Zukunft, Sie für die Vergangenheit. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich muss mich um die Rettung eines Lebens kümmern.«
     
    Julian warf rasch einen Blick durch die Scheibe in der Tür und beobachtete die Familie Juarez, die sich im Wartezimmer aufhielt: insgesamt sechs Personen, die sich um ein orangefarbenes Vinylsofa drängten. Er studierte die kleine Gruppe wie ein Maler, der den Bildaufbau eines Gemäldes analysiert.
    In der Mitte des Sofas saß eine grauhaarige Frau, die den Kopf in die Hände gestützt hatte, sich unablässig vor und zurück wiegte und sich zwischendurch die Tränen aus den Augenwinkeln wischte.
    Die Großmutter und vielgeliebte Matriarchin. Das Zentrum der Familie - absolut loyal und der Tradition verpflichtet. Sie kann die ganze Familie umstimmen, wenn sie es möchte.
    Daneben saß eine jüngere Frau, die der alten Frau den Rücken tätschelte, das Gesicht eines weinenden Kindes streichelte, immer wieder die Hände vors Gesicht schlug und in Schluchzen ausbrach.
    Die Mutter. Das Rückgrat der Familie - sie hält den ganzen Laden zusammen. Egal, wie schlecht es ihr geht, sie opfert sich für die anderen auf. Sie ist der Hebel, der alle anderen bewegen kann.

    Um die beiden trauernden Frauen drängten sich drei Kinder. Das Älteste, ein Mädchen, stand weinend neben seiner Mutter, auf der anderen Seite ein kleiner Junge, der leise weinte und sich mehr über den Kummer seiner Mutter zu grämen schien als über einen Tod, den er noch nicht verstand. Davor auf dem Boden ein noch kleinerer Junge, der selig in einem Bilderbuch blätterte.
    Die Tochter. Die Kleine spielt eine ganz wichtige Rolle. Sie ist das Herz der Familie. Wenn ich ihr Vertrauen gewinne, kann nichts mehr schiefgehen. Durch die Tochter kann ich sie alle erreichen.
    Auf der linken Seite ein Stück abseits stand ein kleiner sehniger Mann mit bronzefarbenem Teint und einem Schnurrbart. Er trug Arbeitskleidung - eine blaue Arbeitshose, aus der unten zwei gefleckte graue Stiefel hervorsahen, und ein ausgeblichenes, labbriges graues T-Shirt. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und ging wie ein gefangener Tiger erregt in dem kleinen Raum auf und ab. In seinen Augen war mal Verwirrung, mal Trauer, mal Wut zu erkennen - wobei die Wut zusehends die Oberhand gewann.
    Der Vater. In dem Mann hat sich der ganze Zorn angesammelt. Er ist wie ein rasender Stier. Entweder kann ich ihn zähmen, oder er zertrampelt mich. Er ist hier das Ego. Ihn muss ich streicheln.
    Julian holte tief Luft, klemmte sich die Akte unter den Arm und klopfte an die Scheibe.
    »Guten Morgen«, sagte er und bemühte sich um einen neutralen Ton. »Ich bin Dr. Zohar.«
    Der Vater blieb stehen und sah ihn an. Dann fingen seine Augen an zu leuchten.
    »Gibt es etwas Neues?«, fragte er erregt. »Hat sich etwas geändert?«

    Plötzlich kam Bewegung in die ganze Gruppe. Die Mutter sprang auf, stürzte auf Julian zu und umfasste mit beiden Händen seine Unterarme. Die Kinder folgten ihr wie Treibgut im Kielwasser eines Schiffes. Der Vater machte einen Schritt nach vorn, hielt dann inne und starrte ihn mit großen Augen hoffnungsvoll an.
    Dann rappelte sich auch noch die Großmutter mühsam auf und steuerte in Julians
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