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Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)

Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Andreas Föhr
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sie rechtzeitig kämen. Würde Kieling sie töten, noch bevor dieser Krieg zu Ende war? Sie musste den nächsten Tag überleben. Irgendwie. Sie wog ihre Möglichkeiten ab. Floh sie und wurde gefasst, würde sie erschossen. Wenn sie blieb – würde Kieling Rache nehmen? Bleiben oder Flucht – welches Risiko war größer? Sie sah zu den Wachen am Scheunentor. Sie schliefen. Auch die SS-Leute waren von Dachau bis hierher zu Fuß gegangen. Bei besserer Verpflegung und mit wärmerer Kleidung. Dennoch – es hatte sie erschöpft.
    Draußen begann es zu dämmern. Es musste kurz nach fünf sein. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. Frieda sah sich vorsichtig um. Neben ihr Greta, eine Frau aus dem jüdischen Teil der Gefangenengruppe. Daneben Sarah, Gretas Tochter, fünfzehn Jahre alt. Nachdem sie noch nicht vollkommen abgemagert waren, konnten sie noch nicht so lange im Lager sein. In Ravensbrück hatte Frieda Greta nicht gesehen. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Es waren Tausende in den Lagern und auf den Transporten, die durchs Reich geschickt wurden. Jemand hatte gesagt, Greta und ihre Tochter hätten sich lange auf einem Dachboden versteckt gehalten und seien erst entdeckt worden, als das Haus, in dem sie lebten, von einer Bombe getroffen wurde.
    Ein paar Mal hatten sie kurz geredet, nichts von Belang. Ohnehin gab es kaum Gelegenheit zu reden. Immer noch wurde auf die Trennung zwischen »Politischen« und »Juden« geachtet.
    Frieda setzte sich vorsichtig auf. In dem Konzert aus Schnarchen und Rascheln im Heu blieb sie unbemerkt. Sie schlang die dünne Wolldecke um sich und nahm ihre Holzschuhe in die Hand. Die würde sie erst draußen anziehen, hier auf dem Holzboden der Scheune waren sie zu laut. Behutsam setzte Frieda Fuß vor Fuß. Die Wachen atmeten gleichmäßig und gaben ab und zu grunzende Laute von sich.
    Da hörte Frieda ein Geräusch hinter sich. Es war anders als die Geräusche, die die Schlafenden verursachten. Erschrocken drehte sie sich um. Zwei Augen starrten aus dem Heuhaufen. Es war Greta. Sie hatte Angst. Wenn die SS-Leute jetzt erwachten, konnte das für alle den Tod bedeuten. Und was die Zurückgebliebenen erwartete, wenn morgen beim Appell eine fehlte, war nicht auszudenken. Greta zitterte am ganzen Leib und war unfähig, sich zu rühren.
    In der Hoffnung, dass Greta stillhalten würde, ging Frieda weiter. Als sie an der Wache rechts vom Tor vorbeikam, löste sich einer ihrer Fußlappen. Sie bückte sich, um das lose Ende festzustecken. Als sie sich wieder aufrichtete, geriet sie mit den Holzschuhen an ihr Knie. Einer der Schuhe löste sich aus ihrer Hand und fiel hinunter.
    Er fiel unnatürlich langsam, die Zeit schien stehenzubleiben. Reflexartig streckte Frieda einen Fuß zu der Stelle, wo der Schuh am Boden aufkommen würde. Er berührte ihren Fuß, wurde kurz gebremst, um dann auf die Holzbretter des Scheunenbodens zu kollern. Frieda hielt den Atem an. Die Wache, vor der sie stand, hob langsam den Kopf. Eine ganze Weile sah der Mann die Frau, die im gestreiften Häftlingsanzug und mit Wolldecke vor ihm stand und nicht atmete, aus halbgeschlossenen Augen an. Dann sagte er mit fränkischer Färbung: »Mudda – zieh die Schürzna aa!«, und ließ den Kopf langsam wieder auf sein Kinn sinken. Frieda wartete zehn Sekunden. Dann wagte sie wieder zu atmen und ihren Holzschuh aufzuheben.
    Schritt für Schritt schlich sie weiter in Richtung Tor. Dort angekommen warf sie einen Blick zurück. Aus dem Heu sahen ihr hundert sehnsuchtsvolle Augen zu, wie sie den Eisenstift aus der schlichten Torverriegelung zog, Millimeter für Millimeter, fast lautlos, den Stift schließlich mit beiden Händen vorsichtig auf den Boden legte, in ihre Schuhe schlüpfte und das Tor langsam aufzog. Ein paar Zentimeter, und sie würde, abgemagert wie sie war, hindurchpassen.
    Das Tor bewegte sich. Doch plötzlich spürte Frieda einen Widerstand. Das leise Geräusch, das damit einherging, zeigte an, dass der Widerstand von den rostigen Angeln rührte, die lange nicht geschmiert worden waren. Es würde quietschen und knirschen. Konzentriert zog sie das Tor weiter auf, bereit, beim ersten winzigen Geräusch innezuhalten. Schweiß lief ihr die Schläfen hinab, trotz der kalten Morgenluft, die durch den Spalt hereindrang. Draußen lag Schnee auf den blühenden Büschen. Aber es taute.
    Ein winziges Stück noch, und sie könnte durch den Spalt schlüpfen. Friedas Atem ging flach, ihr Herz schlug
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