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Totenseelen

Totenseelen

Titel: Totenseelen
Autoren: Birgit Lautenbach
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das Kind in ihrem Bauch, wenn nur der junge Schlesinger sie angerührt hätte. Sie liebte ihn, und sie war sich sicher, er würde wiederkommen. Warum also eine Tragödie daraus machen? Schließlich kam so was in den besten Familien vor, und sie wäre beileibe nicht die Erste, die ein weites Brautkleid brauchte.« Irma Duves Gesicht wurde weicher, während sie ausmalte, wie es hätte sein können. Sogar ein kleines Lächeln spielte kurz um ihren energischen Mund, der wieder schmallippig und bitter wurde, als sie erzählte, wie es wirklich gewesen war.
    Dass nichts übrigblieb von der unbeschwerten, tüchtigen Lissi. Die, wenn sie überhaupt das Haus verließ, durchs Dorf huschte wie eine Büßerin, das Umschlagtuch weit ins Gesicht gezogen, den Blick stets gesenkt.
    »Und so stand sie eines Tages hier in der Stube. Sie hatte sich so leise ins Haus geschlichen, dass ich erschrocken auffuhr, weil ich sie erst bemerkte, als sie schon fast neben meiner Nähmaschine stand. ›Ich muss mit dir sprechen‹, sagte sie gehetzt. ›Nicht jetzt. Morgen. Morgen um diese Zeit. Aber nur, wenn außer dir niemand hier ist.‹ Vormittags war ich oft allein, das wusste sie. Vater schlief oder arbeitete im Hafen, Mutter hatte Dienst in der Post, und meine Geschwister waren in der Schule, auf dem Feld oder bei den Booten. Trotzdem kam es natürlich vor, dass einer von ihnen daheim war. Deswegen zögerte ich, und auch, weil es mich ärgerte, dass Lissi sich vor ihnen zu fürchten schien. Schließlich hatte keiner von uns ihr je etwas getan. Aber sie ließ mich gar nicht zu Wort kommen. ›Bitte, Irma!‹, flehte sie. ›Es ist so wichtig wie noch nie etwas in meinem Leben. Ich muss Clara sehen, und es darf keine Menschenseele etwas davon merken.‹ Ich verstand nicht, warum das so wichtig war, aber ihre Verzweiflung war so erbarmungswürdig, dass ich versprach, worum sie mich bat. Zu Clara sollte ich gehen. Sie schwören lassen, dass niemand, wirklich niemand von unseren Treffen erfuhr. Ein Talglicht ins Fenster stellen, sobald Clara und ich allein waren.«
    Es war dämmrig in Irma Duves Stube und deswegen fiel es leicht, sich einen düsteren Novembertag zu denken, an dem nicht nur Irma eine Talgkerze aufstellte, um ein wenig mehr Licht im Zimmer zu haben. Während er ihrer leisen, festen Stimme zuhörte, ließ Pieplow seinen Blick hinüber zur Kommode schweifen und von dort zur Nähmaschine. Er meinte, am Fenster eine Kerzenflamme in der Zugluft zittern zu sehen und den Geruch nasser, salziger Kälte in Wollkleidern wahrzunehmen.
     
    Als Erste kommt Clara. Sie nimmt das Umschlagtuch von den Schultern, um die staubfeinen Sprühnebeltropfen herauszuschütteln, und sieht sich um. Ungeduldig, wie es Irma scheint, gereizt. Fast so wie die Damen der Gesellschaft, zu der sie nach ihrer Heirat gehören wird. Sie will wissen, was die Heimlichtuerei soll, und zieht halb verärgert, halb amüsiert die Stirn kraus, als Irma darauf keine Antwort weiß.
    Schmaler als früher ist sie, blass. Wunderschön ihr seesandblondes Haar über dem dunklen Wollkleid. Aber auch ein bisschen fremd mit der eigentümlichen Leere in ihrem Blick, der sich nicht festhalten lässt. Bevor ihnen unbehaglich wird, weil die alte Vertrautheit sich nicht einstellen will, huscht Lissi herein. Tief vermummt wie immer in diesen Wochen und gehetzt, als sei sie auf der Flucht.
    Sie hat keine Zeit, stößt sie hervor. Schnell muss es gehen und schwören sollen sie bei allem, was ihnen heilig ist, dass sie mit niemandem über das sprechen, was sie ihnen anvertraut.
    Sie schwören. Clara widerwillig, Irma verwirrt. Aber sie tun es, damit Lissi sich beruhigt.
    Clara will zurückzucken, als Lissi nach ihrem Arm greift, aber die Hände klammern sich fest und lösen sich erst wieder am Ende der ganzen grauenvollen Geschichte, als sie dasitzen wie gelähmt vor Ekel und Angst.
    Er ist ein Ungeheuer, flüstert Lissi, ein barbarisches, heimtückisches Ungeheuer, das immer wieder tun wird, was er mit ihr getan hat. Sie betet zu Gott, sagt sie, dass ihre Schwestern verschont bleiben. Dass sie nicht eines Tages aus dem Bodden gezogen werden, von den Aalen so zerfressen, dass niemand mehr wissen kann, was mit ihnen geschehen ist.
     
    Irma Duve hatte ganz still gesessen, während sie erzählte, die Hände vor sich auf dem Tisch übereinandergelegt, den Rücken so gerade, dass er die Stuhllehne nicht berührte. Jetzt atmete sie tief ein und lehnte sich zurück.
    »Vielleicht hast du von der
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