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Totenseelen

Totenseelen

Titel: Totenseelen
Autoren: Birgit Lautenbach
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Geschichte in Neuendorf gehört? Die Kleine – wie hieß sie noch …?«
    »Gerti«, sagte Pieplow leise. »Gerti Brand. Ich hab davon gehört, ja.«
    »Genau. Elf oder zwölf war sie, ungefähr so alt wie Lambrechts Zwillinge, und Lissi war davon überzeugt, dass es kein Unfall war, sondern dass Roloff sie getötet und ins Wasser geworfen hat.«
    Pieplow nickte kaum merklich. Er hatte auch daran gedacht, es dann aber doch zu spekulativ gefunden. Spekulativer jedenfalls als den Verdacht, es sei Roloff gewesen, der das Mädchen im Hochland so schlimm zugerichtet hatte.
    Das Mädchen, dessen Namen Luise Gröning nicht genannt hatte.
    Ein Gedanke breitete sich in seinem Kopf aus und ließ sich nicht mehr wie bisher beiseiteschieben, sobald er am Rand seines Bewusstseins auftauchte. Dass Marie Recht hatte. Dass er sich zu weit vorgewagt und mit seiner Fragerei nichts als Schaden angerichtet hatte. Dass er die Dinge besser auf sich beruhen ließ, bevor er eine Wahrheit erfuhr, von der er nichts wissen wollte. Aber er räusperte sich und fragte entschiedener, als er sich fühlte: »Wie ging es weiter?«
    »Mit Clara, Lissi und mir? Das ist schnell erzählt. Lissi war ein paar Tage später fort, und bald darauf wurde Clara krank. Lungenentzündung, sagte der Arzt und wunderte sich, dass alle Mühe vergebens schien. Das Fieber stieg, fiel, stieg wieder an. Sie aß kaum. Sie ließ niemanden zu sich. Sie sprach nicht. Auch mit ihrer Mutter nicht, die ihrem Herrgott die verzweifeltsten Angebote machte, wenn nur die Tochter bei ihr blieb. Aber damit, dass sie nicht blieb, hatte der nur wenig zu tun. Das war allein Claras Entscheidung. Nacht für Nacht stand sie auf und öffnete ihr Fenster. Kurz vor Weihnachten war das, als wir fast zwanzig Grad Kälte hatten.«
    »Sie ist also eigentlich nicht an der Lungenentzündung gestorben, sondern sie hat sich umgebracht«, sagte Pieplow, als Irma Duve nicht weitersprach. Sie kniff ihre hellen Augen zusammen, die ohne Brille noch kleiner wirkten, und nickte.
     
    Bloß keine Gefühlsduselei. Das riss nur Wunden auf und machte verletzbar. Am besten man sah überhaupt nicht hin, nicht auf die eigene Verzweiflung, die eigene Angst, und erst recht nicht auf die der anderen.
    Was ging sie Lambrechts Gesaufe an oder die düstere Schwermut des alten Timpe? Schlimm genug, sich die Litanei seiner Frau anhören zu müssen, wenn sie nebenan in der Küche heulte wie ein Klageweib mit ihren ewigen Geschichten vom Besten, das sie gewollt hatte, und vom Schlimmsten, das ihr widerfahren war.
     
    »Kann es sein, dass Clara vor ihrem Tod jemandem von dem Überfall auf Lissi erzählt hat? Ihren Brüdern zum Beispiel, oder ihrem Vater?«
    »Und die sind dann losgezogen, um Roloff zu ermorden? Willst du darauf hinaus? Wer weiß, vielleicht hätten sie’s sogar getan. Aber so war es nicht. Sie waren genauso ahnungslos wie alle anderen.«
    »Außer dir«, stellte Pieplow richtig. Ihm entging nicht, wie sich ihre kurzen Finger so fest zur Faust schlossen, dass die Knöchel als helle Inseln zwischen den vielen braunen Flecken aufschimmerten. Sie verschwanden erst, als die Hände sich lösten und Irma Duve sie schlaff in den Schoß sinken ließ, als seien sie nach schwerer Arbeit erschöpft.
    »Außer mir«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.
    »Aber du hast es anders gemacht als Lissi und Clara, nicht wahr? Du hast nicht geschwiegen.«
    Ihr Gesicht behielt den verschlossenen, abweisenden Ausdruck, als sie den Kopf hob und ihn musterte. »Und wenn?«, fragte sie schließlich.
    »Wenn … Dann hast du wohl mit dem gesprochen, der Dietrich Roloff ermordet hat. Seine Wut geweckt oder seinen Hass oder was sonst einen Menschen zum Mörder machen kann.« Pieplow wich ihrem prüfenden Blick nicht aus. Er nahm die Schultern zurück und machte den Rücken gerade. »Es sei denn, du bist es selbst gewesen.«
    Ganz kurz schien Heiterkeit in Irma Duves Augen aufzublitzen, bevor sie wieder schmal wurden und Pieplow böse fixierten.
    »Ich war es nicht. Aber lass dir gesagt sein, dass ich es bis zum Jüngsten Gericht nicht bereuen würde, wenn ich es getan hätte.«
    Sie dachte an die Wochen nach Claras Tod. Keinen Schritt hatte sie allein über die Insel gewagt und sich in ihrem Leben nie wieder so gefürchtet wie damals. Davor, dass Dietrich Roloff Verdacht schöpfte und sie ein für alle Mal zum Schweigen brachte. Davor, dass es ein nächstes Opfer gab, über das in den Küchen und Wohnstuben gemunkelt wurde. Davor, dass es
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