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Totenreigen

Totenreigen

Titel: Totenreigen
Autoren: Dietmar Lykk
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Holstentörn an der Andreas-Gayk-Straße bis zur Kiellinie
am Fördeufer reichte die fast vier Kilometer lange Vergnügungsmeile. Hunderte
von Fertigbuden und die unvermeidlichen Pagodenzelte, die sich bei Sturm so
schön aufblähten und leicht wegflogen, standen in den Einkaufsstraßen und an
den Fördepromenaden. Backfisch, Bratwürste, Mandeln und internationale
Spezialitäten tauchten die Stadt eine Woche lang in verführerische
Jahrmarktsdüfte. Straßenmusikanten, plärrende Kofferradios, singende oder
schreiende Passanten und klirrende Scherben mischten sich zur alljährlichen
Kieler-Woche-Symphonie. Im Laufe der Woche würden wieder über drei Millionen
Menschen in den Straßen, an und auf der Förde feiern.
    Das bedeutete Schlägereien, Verletzte, Herzinfarkte und auch Tote.
Die Notärzte und die Schutzpolizei waren rund um die Uhr im Einsatz. Das war
der Preis für ein Meer von Segeln auf und Popkonzerte an der Förde.
    Lüthje erinnerte sich an einen Streit mit seiner damaligen Freundin
Dagmar während des Abschlussfeuerwerks. Das war zwanzig, nein, über dreißig
Jahre her. Der Streit hatte die längst überfällige Trennung ausgelöst. Sie
hatte ihn so laut angeschrien, dass sich ein Menschenauflauf um sie gebildet
hatte. Sie hatte ihm die Knäckebrotkrümel in seinen Hosentaschen vorgeworfen.
    Am Eingang des Karstadt-Gebäudes am Holstentörn blieb Lüthje einen
Moment stehen und grüßte die riesige Thaulow-Platane. Sie war 1878 vor den Eingang
des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Thaulow-Museums gepflanzt worden und hatte
alle umgebenden Gebäude von damals überlebt. Zwei Weltkriege und die Stadt in
Trümmern. Jetzt hatten Konsumtempel den Baum so eingekesselt, dass ihn keiner
der Kieler-Woche-Besucher mehr wahrnahm.
    Lüthje überlegte, ob er Malbek anrufen sollte. Malbek wollte mit
Tochter Sophie und Wohnmobil mit der Fähre nach England in Urlaub fahren. Aber
Malbek würde sich in zwei Wochen nach der Rückkehr aus dem Urlaub
wahrscheinlich noch genug den Kopf über die Geschichte mit dem blutigen Mantel
aus Laboe zerbrechen müssen.
    Lüthje würde Malbek morgen eine SMS schicken, in der er ihm und Sophie viel Spaß und gute Erholung wünschte. Das
reichte, sonst kniete Malbek sich womöglich noch während des Urlaubs in diese
neue Geschichte hinein.
    Lüthje war auf dem Exerzierplatz angelangt. Er inspizierte seinen
Dienstwagen gründlich auf Kratzer oder Beulen und freute sich, dass auf diesem
großen, vollbesetzten Parkplatz ohne Bewachung nichts passiert war.
    Er verließ Kiel über die alte Levensauer Kanalbrücke, sah die
Positionslichter der Schiffe im Nord-Ostsee-Kanal, bis sich die Straße in
großem Bogen Richtung Norden absenkte und die Landschaft im Dunkel der Nacht
verbarg.
    Lüthje fragte sich, wo der Mantelmann, so wollte er ihn jetzt
nennen, in Laboe im Blut gegangen war. Vielleicht bei einer Hausschlachtung,
wie Lüthje sie aus seiner Kindheit kannte. Oder gab es wieder einen Schlachter,
der Wurst und Braten nur von selbst geschlachteten Tieren herstellte? Als
werbewirksame Alternative zu den großen Schlachthöfen? Wenn man dort einkaufen
würde, könnte es einem doch passieren, dass man über einen Hof in den Laden
musste und einem das Tierblut an den Schuhen kleben blieb.
    Lüthje erinnerte sich daran, dass seine Mutter ihn immer vom
Kindergarten abgeholt hatte und er in der Parkstraße in einen unheimlichen
Hinterhof sehen konnte, in dem ein Mann in lederner Schlachterschürze mit dem
Wasserschlauch Lachen dunkler Flüssigkeit vom Zementboden in den Gully spülte.
Eines Tages hatte er allen seinen Mut zusammengenommen und gefragt, was das für
ein Haus sei, und hatte mit der Hand zur anderen Straße gezeigt.
    »Ein Schlachthof«, hatte seine Mutter gesagt, mehr nicht, seine Hand
fester gefasst und den Schritt beschleunigt.
    Ein Hof hinter einem Haus, ein Wasserschlauch an einem
dahinterliegenden Gebäude säuberlich zusammengerollt, gepflastert, alle
Hoftüren geschlossen, aufgeräumt und so sauber. Nur manchmal ein Mann mit
Schürze und Wasserschlauch. So sah also ein Schlachthof aus, dachte er damals.
Wann werden sie geschlachtet, nachts? Und frühmorgens, wenn alle noch schlafen?
Oder solange die Kinder im Kindergarten sind?
    Oder das Quieken des Schweins im Buerbarg, am Hang gleich hinter
ihrem Haus, das an einem Nachmittag vor Ostern einer Hausschlachtung zum Opfer
fiel. Danach diese unheimliche Stille, als hätte jeder ringsum, einschließlich
der Vögel, den Atem
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