Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenreigen

Totenreigen

Titel: Totenreigen
Autoren: Dietmar Lykk
Vom Netzwerk:
Lüthjes
Schulzeiten noch Lastwagen mit Kohle oder Bauholz gewogen worden waren. Das
Gefühl, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, das hatten sie
wahrscheinlich in ihrem Leben mehrfach erlebt. Jetzt hatten sie es so weit
verdrängt, dass es sich nach ein paar Gläsern Bier oder Wein in einem leichten
Schaudern und schulmädchenhaftem Kichern entlud. Sie warfen ein paar
unauffällige Blicke zu dem Alten, der reglos nach Norden starrte. In Richtung
Ehrenmal, dachte Lüthje.
    Eine angeregte Abschiedsszene entstand zwischen den Frauen, sie
umarmten sich, zwei Frauen verabschiedeten sich und gingen in Richtung
Ortsmitte. Es gab ein Winken mit einem mehrstimmigen »Tschühüs!«. Die anderen
Frauen blieben zurück und senkten ihre Stimmen.
    Endlich fuhr der Bus an die Haltestelle. Lüthje dachte, dass es
vielleicht besser wäre, dem Alten beim Einsteigen behilflich zu sein, aber er
war schon vor Lüthje an der sich öffnenden Tür und suchte sich einen Platz am
Gang gleich hinter dem Fahrer. Ob er jemanden besucht hatte? Seine Kinder? Die
hätten ihn doch zum Bus gebracht. Nein, sie hätten ihn nach Haus gefahren. Eine
ungefähr gleichaltrige Freundin? Einen Ring trug er jedenfalls nicht.
    Lüthje kaufte eine Fahrkarte zur Andreas-Gayk-Straße. Von dort war
es nicht weit zum Exerzierplatz, auf dem er seinen Wagen abgestellt hatte. Er
wählte einen Platz schräg hinter dem Alten, auf der anderen Gangseite, sodass
er ihn im Blick hatte. Sie waren die einzigen Fahrgäste im vorderen Teil des
Gliederbusses. Lüthje registrierte erleichtert, dass die Frauengruppe im
hinteren Teil eingestiegen war.
    Die Fenster waren beschlagen. Der Fahrer hatte die Türen während
seiner Pause geschlossen gehalten, sodass die Feuchtigkeit nicht trocknen
konnte. Aus einer nostalgischen Betrachtung der Strecke am Abend würde also
nichts werden. Lüthje wühlte in seinem Rucksack nach einem Taschentuch und
wischte sich ein »Bullauge« frei. Er sah die ehemalige Brodersdorfer Schule vorbeihuschen,
bis die Luftfeuchtigkeit sein Bullauge wieder verschliert hatte.
    Lüthje wandte sich dem Alten zu. Der saß stocksteif da, als ob er
einen Spazierstock verschluckt hätte, und blickte nicht nach rechts oder links,
nur nach vorn in Fahrtrichtung, als würde er den Straßenverlauf verfolgen
können. Er sah auf die Armbanduhr, die er auf dem rechten Arm trug, sodass
Lüthje es genau beobachten konnte. Der Arm zitterte. Vielleicht hatte er
beginnenden Parkinson. Es fehlte aber die kreisende Bewegung, die Lüthje bei
einem Kollegen mit dieser Erkrankung vor einigen Jahren einmal beobachtet
hatte. Im fortgeschrittenen Stadium schien der Erkrankte ständig einen Teig zu
rühren.
    Im kurvigen Straßenverlauf in Neuheikendorf hielt der Alte sich
krampfhaft am vorderen Sitz fest. Lüthje erhob sich zweimal vorsichtshalber, um
notfalls schneller zupacken zu können. Auf der geraden Strecke nach Heikendorf
sah der Alte zweimal auf die Armbanduhr. Wahrscheinlich wollte er einen Zug in
Kiel erreichen. Oder einen Überlandbus.
    In Heikendorf stiegen zum ersten Mal auf der Strecke Fahrgäste zu.
Junge Mädchen, die ein iPhone vor sich hertrugen und weiße Kopfhörer in den
Ohren hatten, ein älteres Ehepaar und zwei junge Skateboardfahrer mit dem Brett
unter dem Arm.
    Das Licht des Heikendorfer Ortszentrums waberte durch die nassen
Scheiben und wanderte durch das Innere des Busses wie Scheinwerfer bei einem
Popkonzert. Lüthjes Blick blieb wieder an dem verschmutzten Mantelsaum hängen.
Die Schmutzränder sahen merkwürdig aus und schienen nicht so schnell zu
trocknen, wie man es von Wasser gewohnt ist. Lüthje hatte sich noch nie über
solche Dinge Gedanken gemacht, aber er spürte so ein merkwürdiges Kribbeln im
Nacken, wenn er darüber nachdachte. Wahrscheinlich schlurfte der Alte. Dann war
das unten am Mantel eine Dreckspur.
    Der Alte sah wieder auf die Armbanduhr und reckte den Kopf in
Fahrtrichtung. Er schien sein Fahrtziel zu kennen.
    Am Ortsausgang summte Lüthjes Handy. Rufnummer unbekannt, sagte das
Display. Er nahm das Gespräch an. Aus dem Stimmbrocken erkannte er Hillys
Stimme, verstand aber kein einziges Wort. Die waldbewachsenen Kitzeberger
Berge, durch die der Bus fuhr, waren schuld.
    »Ich bin im Bus!«, rief er ins Handy.
    Der Fahrer sah ihn über den Rückspiegel böse an. Lüthje unterbrach
das Gespräch. Der Alte hatte sich nicht gerührt, als sei er taub.
    Hilly war seit vorgestern in London, sie hatte sich mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher