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Totenpfad

Totenpfad

Titel: Totenpfad
Autoren: Elly Griffiths , Tanja Handels
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Landschaft hingezogen fühlt. Das erste Mal ist sie aus beruflichenGründen hierher ans Salzmoor gekommen; weshalb sie trotz aller widrigen Umstände bleibt, weiß sie selber nicht. «Ich bin es eben so gewöhnt.» Mehr kann sie dazu nicht sagen. «Und die Katzen würden auch nicht gerne umziehen.» Dann lachen die anderen. Die gute Ruth mit ihren heißgeliebten Katzen, klarer Fall von Kinder-Ersatz; eigentlich schade, dass sie nie geheiratet hat, wenn sie lächelt, ist sie richtig hübsch.
    Heute ist die Straße frei, nur der ewige Wind weht eine dünne Salzspur auf die Windschutzscheibe. Ruth sprüht automatisch Wischwasser darauf, während sie im Schritttempo über den Weiderost holpert und dann der kurvigen Straße ins Dorf folgt. Im Sommer neigen sich die belaubten Bäume aufeinander zu und bilden einen geheimnisvollen, grünen Tunnel, doch heute sind sie bloße Gerippe, die ihre kahlen Arme gen Himmel strecken. Ein bisschen schneller, als ratsam wäre, fährt Ruth an den vier Häusern und dem vernagelten Pub vorbei, die das Dorf bilden, und nimmt die Abzweigung nach King’s Lynn. Ihre erste Vorlesung beginnt um zehn.
    Ruth unterrichtet an der University of North Norfolk, der UNN, wie die wenig einnehmende Abkürzung lautet, einer jungen Universität am Stadtrand von King’s Lynn. Sie ist Dozentin für Archäologie, einem jungen Studienfach an dieser Uni, und ihr Spezialgebiet ist forensische Archäologie, eine noch sehr viel jüngere Disziplin. Phil, der Lehrstuhlinhaber, witzelt häufig darüber, dass Archäologie ja eigentlich so gar nichts Jugendliches an sich habe, und Ruth lächelt jedes Mal pflichtschuldigst. Insgeheim ist sie überzeugt, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis Phil sich einen lustigen Autoaufkleber zulegt: «Grab doch mal ’nen Archäologen an» oder «Für Archäologen ist man nie zu alt». Sie selbst interessiert sich vor allem für Knochen. Wann klappern Skelette am lautesten? Wenn siedas Tanzbein schwingen. Ruth kennt die Witze alle längst, muss aber trotzdem jedes Mal wieder lachen. Vergangenes Jahr haben die Studenten ihr ein fast lebensgroßes Plastikskelett mit baumelnden Armen und Beinen geschenkt. Das hängt jetzt oben am Treppenabsatz und macht den Katzen Angst. Im Radio philosophiert jemand über das Leben nach dem Tod. Woher kommt das Bedürfnis, uns einen Himmel auszumalen? Gibt es einen Beweis dafür, dass ein solcher Ort tatsächlich existiert, oder ist es einfach nur Wunschdenken im ganz großen Stil? Ruths Eltern reden vom Himmel, als wäre er gleich nebenan, wie eine Art kosmisches Einkaufszentrum, wo sie sich bestens auskennen und umsonst am Park-and-ride-System teilnehmen dürfen, während Ruth auf ewig in der Tiefgarage schmachten muss. Oder zumindest so lange, bis sie selbst wiedererweckt wird. Ihr ist der katholische Himmel lieber, wie sie ihn von Studienreisen nach Italien und Spanien kennt. Ein weites, wolkenverhangenes Himmelszelt, Weihrauch und Kerzendunst, geheimnisvolles Dunkel. Ruth liebt alles Weite: die Bilder von John Martin, den Vatikan, den Himmel über Norfolk. Ein Glück, denkt sie selbstironisch, als sie auf den Campus einbiegt.
    Die Universität besteht aus mehreren niedrigen, langgestreckten Gebäuden mit gläsernen Verbindungsstegen dazwischen. An einem grauen Morgen wie diesem wirkt der ganze Komplex fast einladend: Gelbliches Licht fällt auf die zahllosen Parkplätze hinaus, und eine Reihe winziger Lämpchen weist den Weg zu dem Gebäude, in dem die Fachbereiche Archäologie und Naturwissenschaft untergebracht sind. Aus der Nähe ist das Ganze dann schon weniger eindrucksvoll. Obwohl der Campus erst zehn Jahre alt ist, haben die Betonfassaden bereits erste Risse, die Wände sind mit Graffiti beschmiert, und ein gutes Drittel der kleinen Lämpchen ist defekt. Ruth bemerkt das alles kaum.Sie fährt auf ihren gewohnten Parkplatz und wuchtet den schweren Rucksack aus dem Wagen. Schwer ist er deshalb, weil er zur Hälfte mit Knochen gefüllt ist.
    Auf dem Weg durch das muffige Treppenhaus zu ihrem Büro denkt sie über ihre erste Vorlesung nach: «Grundprinzipien der Ausgrabungstechnik». Obwohl sie alle schon einen Studienabschluss haben, verfügen ihre Studenten in der Regel über wenig bis keine Ausgrabungspraxis. Viele kommen aus dem Ausland – die Universität kann ihre Studiengebühren gut brauchen   –, und der steinhart gefrorene Boden East Anglias wäre ein zu großer Kulturschock für sie. Ihre erste offizielle Ausgrabung
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