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Totenpfad

Totenpfad

Titel: Totenpfad
Autoren: Elly Griffiths , Tanja Handels
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muss.
    Verzweifelt schaut sie sich nach etwas um, auf das sie klettern könnte. Ihr Blick fällt auf den Plastikbehälter mit den Spielsachen, sie zieht ihn direkt unter die Falltür und steigt darauf. Immer noch zu niedrig. Also holt sie den Eimer,leert seinen stinkenden Inhalt in die Ecke, stellt ihn umgedreht auf die Plastikkiste und steigt schwankend hinauf. Na also! Jetzt kann sie den Rand der Falltür greifen. Sie mobilisiert jeden letzten Rest ihrer übermenschlichen Kräfte, um sich hochzuziehen. Und während ihre Finger hektisch nach Halt auf dem Holzboden des Unterstands suchen, spürt sie, dass wie durch ein Wunder jemand entschlossen an ihrer Hand zerrt. Lucy. Lucy versucht, ihr zu helfen. Und ob es nun daran liegt oder nicht, plötzlich hat Ruth den Oberkörper durch die Falltür gewuchtet und zieht mit einem letzten Ruck auch die Beine nach. Dann bleibt sie keuchend auf dem Boden des Unterstands liegen.
    Lucy beobachtet sie, und als sie sich vorbeugt, ist ihre Stimme kaum mehr als ein leises, atemloses Flüstern.
    «Gehen wir jetzt nach Hause?»
    «Ja.» Ruth rappelt sich hoch und nimmt Lucy bei der Hand. Der Regen trommelt noch auf das Dach des Unterstands, doch das Gewitter scheint sich verzogen zu haben. Ruth mustert die dünne, zitternde Lucy. Wie soll sie jemals mit ihr nach Hause kommen? Kurz entschlossen zieht sie die Polizeijacke aus und legt sie Lucy um die Schultern. Sie reicht ihr fast bis zu den Knien.
    «So», sagt Ruth mit ihrer munteren Mutterstimme. «Jetzt kann dir nichts mehr passieren.»
    Doch Lucy sieht an ihr vorbei und bekommt einen starren Blick. Sie hat etwas gehört, und nun hört Ruth es ebenfalls. Schritte. Die Schritte eines Mannes, die rasch näher kommen.

29
    Mit wehendem lila Umhang schreitet Cathbad über das Moor. Hin und wieder bleibt er stehen, leuchtet mit der Taschenlampe auf den Boden und wendet sich dann ein wenig nach rechts oder nach links. Nelson folgt ihm. Seine Kiefermuskeln sind ganz verkrampft vor lauter Frust, doch trotzdem muss er zugeben, dass Cathbad bisher noch keinen falschen Schritt getan hat. Zu beiden Seiten sieht er stehendes Gewässer und dunkles, tückisches Moorland, doch sie bleiben die ganze Zeit sicher auf dem verschlungenen, steinigen Pfad. Donner grollt über ihren Köpfen, Regen prasselt erbarmungslos auf sie nieder. Nelson ist durchnässt bis auf die Haut, doch das spielt alles keine Rolle, solange sie nur Ruth finden.
    Es ist so dunkel, dass er Cathbad hin und wieder fast aus den Augen verliert, obwohl er nur wenige Schritte hinter ihm geht. Dann schimmert es irgendwo lila auf, und Nelson kann sicher sein, dass der alte Spinner doch noch da ist. Ein- oder zweimal dreht sich Cathbad zu ihm um und bedenkt ihn mit einem irren Grinsen.
    «Kosmische Energie», sagt er.
    Nelson schenkt ihm keine weitere Beachtung.
    Wo in aller Welt steckt Ruth? Und wo ist Erik? Welcher Teufel kann sie bloß geritten haben, einfach davonzurennen, hinaus aufs Moor, bei diesem scheußlichen Wetter? Nelson seufzt auf. Jedes Mal, wenn er an Ruth denkt, schnürt es ihm die Kehle zu. Fast wird ihm ein wenig warm ums Herz, wenn er an sie denkt, an ihre Listen, daran, wie sehr sie ihre Katzen liebt, wie sie sich immer weigert, den Kaffee auf dem Revier zu trinken, und wie sie sich ruhig und sorgfältig durch verschiedene Erdschichten gräbt, um schließlich unbezahlbare Schätze zu heben. Er denkt daran, wie sie ihm Kaffee gekocht undihm zugehört hat, an dem Abend, nachdem sie Scarlet gefunden hatten. Er denkt an ihren Körper, weiß im Mondschein, und daran, wie schön sie ohne Kleider war. Er sieht sie bei Scarlets Beerdigung, mit rotgeweinten Augen, sieht ihr Gesicht, als sie ihm mitgeteilt hat, dass Erik die Briefe geschrieben haben muss. Wieder seufzt er, und diesmal wird fast ein Stöhnen daraus. Er ist nicht verliebt in Ruth, aber sie hat sich doch irgendwie in sein Herz geschlichen. Wenn ihr etwas zustößt, wird er sich das nie verzeihen können.
    Cathbad ist wieder stehen geblieben, und Nelson prallt fast gegen ihn.
    «Was ist denn?» Er muss fast brüllen, um den Wind zu übertönen.
    «Ich habe den Pfad verloren.»
    «Sie machen wohl Witze!»
    Cathbad lässt den Strahl der Taschenlampe über den Boden wandern.
    «Manche der Pfähle sind überflutet   …», murmelt er. «Hier müsste einer sein.»
    Er macht einen Schritt nach vorn und ist verschwunden. Ihm bleibt nicht einmal Zeit für einen Schrei, er ist einfach weg, wie von der Nacht verschluckt.
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