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Totenmond

Totenmond

Titel: Totenmond
Autoren: Sven Koch
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den Oberkörper verdrehte. Sie waren verklebt worden. Es würden Narben zurückbleiben. Jeder Fall eine Narbe, dachte Alex. Wenn sich an ihrer Quote nicht bald etwas änderte, würde sie in zehn Jahren aussehen wie Frankenstein.
    Alex warf einen Euro in den Automaten und wartete, bis er einen Coupon ausspuckte. Dann ging sie zurück zum Wagen und klemmte den Zettel hinter die Windschutzscheibe.
    Schneider hatte nicht ambulant versorgt werden können. Er musste operiert werden. Zwei Metallstäbe stachen nun aus dem Knie heraus. Bei dem Unfall war tatsächlich nicht sein Bein gebrochen, vielmehr hatte es das Gelenk erwischt. Zur Beobachtung sollte er noch einige Tage im Klinikum bleiben, was er so schlimm nicht fand – schließlich lag er auf der Station, auf der seine Freundin Maria arbeitete. Alex hatte sie dort kennengelernt. Ein weißer Kittel spannte sich straff über ihren ausladenden Busen und die breiten Hüften. Ihre Augen strahlten, was ihr hübsches Gesicht von innen heraus leuchten ließ. Sie hatte gesagt: »Schlimm für den Rolf ist, dass er nicht rauchen darf. Aber das ist ja mal eine ganz gute Möglichkeit, dass er es sich komplett abgewöhnt, nicht?« Schneider hatte dazu nur gemeint, dass eher der Mond viereckig werde.
    Alex warf die Tür zu, verschloss den Wagen mit der Fernbedienung und überquerte die Straße. Ihr Herz klopfte, ihre Hände waren feucht. Sie dachte daran, dass der Fall mit Marc Berners Tod noch nicht abgeschlossen war. Für viele Menschen, die daran unmittelbar beteiligt gewesen waren, würde er es auch nie sein. Allen voran für Mia, für Alex selbst – und natürlich für alle Angehörigen der Opfer seiner schrecklichen Taten sowie den mittlerweile freigelassenen Elmar Hankemeier, der keinen Schimmer gehabt hatte, dass er als Köder von seinem bestialischen Zwillingsbruder missbraucht worden war.
    Soweit die Polizei bislang wusste, hatten sich die bisherigen Annahmen über Marc Berners Vorgeschichte als zutreffend erwiesen. Wegen Misshandlungen in der Familie Frentzen war sein Name auf Antrag des Kreisjugendamts geändert worden. Er lebte danach eine Zeitlang in einer betreuten Jugendeinrichtung und entwickelte sich vorbildlich. Machte sein Abitur und fiel nirgends negativ auf. In München studierte er Ethnologie und Afrikanistik. Von dort aus führten ihn Studienreisen nach Westafrika. Er volontierte an Museen, legte seine Abschlussarbeit über die Geheimgesellschaften Zentral- und Westafrikas ab. Vor drei Jahren kam er nach vorheriger Tätigkeit im Museum für Völkerkunde in Hamburg nach Lemfeld. Ob es ein Zufall war, dass hier eine Stelle ausgeschrieben war, stand noch nicht fest.
    Berners Studienaufenthalte in Afrika waren verbrieft und in den Unterlagen von Universitäten und Museen sowie in Einreisedokumenten vermerkt. Er hatte während seiner Aufenthalte dreimal das Dschungelklinikum in Kritari aufgesucht, wo die deutschen Krankenschwestern getötet worden waren. Einmal war er dort wegen einer Gelenkentzündung in Behandlung. Zwei weitere Male hatte man ihm ein Zimmer für Übernachtungen zur Verfügung gestellt. Dort soll er sich ausgiebig mit den Waisenkindern befasst und außerdem dabei geholfen haben, einen Radiosender aufzubauen.
    Musik schien ihn fasziniert und geprägt zu haben – woran sicherlich sein Adoptivvater Rudi schuld gewesen war. Alex erinnerte sich an die monströse Plattensammlung im Haus von Ingelore Frentzen. Bei der Durchsuchung von Berners Wohnung hatte die Polizei außerdem herausgefunden, dass er einen eigenen Internet-Radiostream unter dem Pseudonym Wolfman betrieben und Tausende Musikdateien auf dem Rechner gespeichert hatte.
    Berner galt als technisch sehr versiert, wie einige Kollegen von ihm aus dem Landesmuseum ausgesagt hatten. Sie hatten ihn aber auch als jemanden beschrieben, der sehr zurückgezogen und in einer Welt für sich gelebt habe, ein Sonderling, wenngleich fachlich über jeden Zweifel erhaben – kurz: Jeder war erschüttert über Berners Taten, aber nicht ein Einziger hatte Verwunderung geäußert. Was Alex für bemerkenswert hielt, denn sonst hieß es meist: Das hätten wir dem nie zugetraut, er war immer so normal.
    Die Tatsache, dass Berner seinen Bruder gefunden hatte, sowie der Druck durch den neuen Job und die millionenschwere Museumserweiterung hatten ihm in der Summe reichlich Stress beschert. Berner war es gewohnt, Verantwortung an seinen Fetischgott abzugeben, aber das hatte wohl am Ende nicht mehr richtig
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