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Totenhauch

Totenhauch

Titel: Totenhauch
Autoren: Amanda Stevens
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… Er war ein stilles, dürres Kerlchen. Ich habe ihn zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten auf der Straße herumirren sehen. Oder er ist allein zu Hause auf der Veranda gehockt. Ich denke, dass es sich deshalb mit Clayton Masterson abgegeben hat. Das arme Kind war einfach einsam.
    Ich schaute auf Daniels Handgelenk. Der Ärmel seines Hemdes verbarg die Narben, aber vor meinem geistigen Auge konnte ich sie deutlich sehen: ein zerklüftetes Kreuz und Quer aus Schmerz.
    Clayton hat sie beide an den Handgelenken zusammengebunden und dem Kind mit Gewalt ein Messer in die Hand gedrückt. Hat ihn gezwungen, diesem armen Hund die Klinge ins Herz zu stoßen.
    Der Totengeist von Clayton Masterson hatte gestern Abend Handschellen getragen. Das eine Ende lag um sein Handgelenk, das andere Ende baumelte lose hinunter   … weil Daniel draußen auf ihn gewartet hatte. Der Schatten, den ich in der Ecke der Veranda hatte kauern sehen   …
    Daniel, die Beine immer noch umschlungen, begann langsam mit dem Oberkörper vor und zurück zu schaukeln und dabei leise vor sich hin zu summen. Er neigte den Kopf zur Seite, legte die Wange auf die Knie und beobachtete mich. »Wissen Sie eigentlich, warum Sie in diesem Haus sicher sind?«, fragte er schließlich.
    Wieder schüttelte ich den Kopf.
    »Früher stand auf diesem Grundstück ein Waisenhaus. An der Stelle hier war die Kapelle. Aber irgendwann gab es so viele Waisen, dass sie in ein anderes Gebäude umziehen mussten. Das lag außerhalb der Stadt und ist 1907 abgebrannt, und viele Kinder sind dabei ums Leben gekommen.«
    Die Engel, durchfuhr es mich. Papas Engel hatten eine Verbindung zu diesem Haus. Kein Wunder, dass ich mich hier immer so sicher gefühlt hatte. Bis jetzt   …
    Er hob den Kopf und sah sich um. »Ich wusste gleich, als ich das Haus zum ersten Mal betreten habe, dass es ein ganz besonderer Ort ist. Sie hatten großes Glück, dass Sie es gefunden haben. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das wirklich etwas mit Glück zu tun hatte. Alles, was passiert, hat einen Grund. Warum hätte man Sie sonst wohl nach Oak Grove geschickt? Sie sollten mich befreien!«
    »Wie   … lange   …?«
    »… ich Sie schon beobachte? Seit dem Abend im Rapture . In Ihr Haus bin ich gekommen, um mir einen Eindruck von Ihnen zu machen. Ich musste wissen, was für Schwächen Sie haben, was für Gewohnheiten Sie haben. Wie ich am besten an Sie herankomme. Es war ziemlich einfach, weil ihr Nachbar so einen verrückten Dienstplan hat. Und als er dann in Urlaub gegangen ist, kam mir plötzlich die Idee, dass ich hierbleiben könnte. Weil ich hier vielleicht auch in Sicherheit wäre. Es hat mir aber nur eine vorübergehende Atempause verschafft. Es gibt nur einen einzigen Weg, mich wirklich von ihm zu befreien.«
    Er fasste zu mir herüber und prüfte ganz behutsam, wie stark meine Pupillen geweitet waren. »Wissen Sie, ich habe Ihr Gesicht gesehen an dem Abend im Rapture . Sie haben Claytons Geist im Garten entdeckt. Niemandem sonst wäre der Ausdruck in Ihren Augen aufgefallen, aber ich wusste sofort Bescheid. Ich wusste es.«
    Er fing wieder an, sich vor und zurück zu wiegen.
    »In all den Jahren konnte ihn nie jemand anderes sehen. Sie haben ja keine Ahnung, wie einsam ich deswegen war.«
    »Da   … irren   … Sie sich   …«
    Mit reuevoller Miene legte er mir die Hand auf den Arm. »Verzeihen Sie. Das war eine unpassende Bemerkung. Sie sind vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der nachvollziehen kann, womit ich leben musste.«
    In seiner Stimme schwang Erstaunen mit und Schmerz.
    Im nächsten Moment füllten sich seine Augen mit Tränen. »Wissen Sie, man kann sie einfach nicht loswerden.«
    »Ich   … weiß.«
    »Egal, wie tief ich geschnitten habe, ich konnte ihn nicht abschneiden. Aber dann habe ich Sie im Rapture gesehen und dachte plötzlich, dass es vielleicht doch noch Hoffnung gibt. Ich bin an dem Abend nach Hause gegangen und habe angefangen zu planen, wie es enden soll. Es hat eine Weile gedauert, und ich musste vorsichtig sein, damit Clayton es nicht mitbekam. Ich wusste, dass er einen Weg finden würde, mich aufzuhalten, aber dieses Mal habe ich ihn ausgetrickst. Ich habe mein letztes Buch fertiggestellt, meine Angelegenheiten geregelt, und dann habe ich Ihnen die Hinweise zukommen lassen, damit die Leichen gefunden werden. Ich konnte nicht gehen mit dieser Last auf dem Gewissen. In den meisten Fällen habe ich versucht, ihnen ein anständiges Begräbnis
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