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Totengrund

Totengrund

Titel: Totengrund
Autoren: Tess Gerritsen
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Augen von dichten Wimpern beschattet. Am Ende waren es nicht Blut und klaffende Wunden, die einen Saal voller Rechtsmediziner schockierten, sondern die Schönheit dieses Mädchengesichts. Mit ihren vierzehn Jahren hatte sie im Augenblick ihres Todes vielleicht an eine Schulaufgabe gedacht. Oder an ein hübsches Kleid. Oder an einen Jungen, den sie auf der Straße hatte vorbeigehen sehen. Sie hatte sich gewiss nicht vorstellen können, dass ihre Lunge, ihre Leber und ihre Milz kurz darauf auf einem Seziertisch liegen würden, oder dass eine Versammlung von zweihundert Rechtsmedizinern eines Tages ihr Bild begaffen würde.
    Als die Lichter angingen, waren die Zuhörer immer noch ganz still. Während die anderen den Saal verließen, blieb Maura auf ihrem Stuhl sitzen und starrte die Notizen an, die sie sich auf ihrem Block gemacht hatte, Notizen über Nagelbomben und Paketbomben, über Autobomben und vergrabene Bomben. Wenn es darum ging, anderen Leid zuzufügen, kannte der menschliche Erfindungsreichtum keine Grenzen. Wir sind so gut darin, unsere Mitmenschen zu töten, dachte sie. Und doch scheitern wir so kläglich, wenn es um die Liebe geht.
    »Entschuldigung – Sie sind nicht zufällig Maura Isles?«
    Sie blickte zu dem Mann auf, der sich von seinem Platz zwei Reihen vor ihr erhoben hatte. Er war ungefähr in ihrem Alter, groß und sportlich gebaut, und beim Anblick seiner tief gebräunten Haut und des sonnengebleichten blonden Haars dachte sie sofort: Der typische California Boy . Sein Gesicht kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie konnte sich nicht erinnern, woher sie ihn kannte, was ziemlich erstaunlich war. Es war ein Gesicht, das wohl keine Frau so schnell vergessen würde.
    »Ich hab ’ s gewusst! Du bist es, nicht wahr?« Er lachte. »Ich dachte mir doch gleich, dass ich dich erkannt habe, als ich hier reinkam.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Das ist mir wirklich ausgesprochen peinlich, aber ich kann Sie irgendwie nicht recht einordnen.«
    »Das liegt daran, dass es schon so lange her ist. Und ich habe meinen Pferdeschwanz nicht mehr. Doug Comley, Vorklinikum in Stanford. Wie lange ist das jetzt her – zwanzig Jahre? Wundert mich nicht, dass du mich vergessen hast. Also, ich hätte mich an deiner Stelle bestimmt auch vergessen.«
    Plötzlich blitzte eine Erinnerung in ihrem Kopf auf, das Bild eines jungen Mannes mit langen blonden Haaren und einer Schutzbrille auf der sonnenverbrannten Nase. Er war damals viel schlaksiger gewesen, ein Windhund in Bluejeans. »Waren wir zusammen in einem Laborkurs?«, fragte sie.
    »Quantitative Analyse. Drittes Jahr.«
    »Das weißt du noch, obwohl es zwanzig Jahre her ist? Ich bin verblüfft.«
    »Ich weiß absolut nichts mehr von der verdammten quantitativen Analyse. Aber an dich erinnere ich mich. Du hattest den Laborarbeitsplatz direkt gegenüber von mir, und du hattest die höchste Punktzahl im ganzen Kurs. Hast du nicht später am UC San Francisco Medizin studiert?«
    »Stimmt, aber jetzt lebe ich in Boston. Und du?«
    »UC San Diego. Ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, Kalifornien zu verlassen. Süchtig nach Sonne und Wellen.«
    »Im Moment hört sich das für mich auch total verlockend an. Erst November, und ich habe die Kälte jetzt schon satt.«
    »Ich finde den Schnee hier irgendwie cool. Hat richtig Spaß gemacht.«
    »Aber auch nur, weil du nicht vier Monate im Jahr damit leben musst.«
    Inzwischen hatte der Konferenzsaal sich geleert, und die Hotelangestellten hatten begonnen, die Stühle wegzuräumen und die Tonanlage herauszurollen. Maura stopfte ihre Aufzeichnungen in ihre Tragetasche und stand auf. Als sie und Doug an ihren beiden Sitzreihen entlang zum Ausgang gingen, fragte sie ihn: »Sehen wir uns heute Abend bei der Cocktailparty?«
    »Ja, ich denke schon, dass ich hingehen werde. Aber fürs Abendessen ist nichts organisiert, oder?«
    »So steht es jedenfalls im Programm.«
    Sie verließen zusammen den Saal und betraten die Hotellobby, in der es von Medizinern wimmelte, alle mit den gleichen weißen Namensschildern an der Brust und den gleichen Konferenz-Tragetaschen in den Händen. Zusammen warteten sie vor den Aufzügen, beide bemüht, die Unterhaltung in Gang zu halten.
    »Bist du denn mit deinem Mann hier?«, fragte er.
    »Ich bin nicht verheiratet.«
    »Habe ich nicht deine Heiratsanzeige in der Ehemaligenzeitung gesehen?«
    Sie sah ihn überrascht an. »So was merkst du dir?«
    »Es interessiert mich nun mal, was aus
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