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Totengrund

Totengrund

Titel: Totengrund
Autoren: Tess Gerritsen
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jeden Morgen zusammen aufwachen könnten.
    Jetzt bin ich doch für dich da, Maura.
    Aber nicht ganz und gar. Nicht, solange du keine Entscheidung triffst.
    Sie blickte aus dem Fenster und sah die Autos durch den strömenden Regen rauschen. Daniel kann sich nicht zu einer Entscheidung durchringen, dachte sie. Und selbst wenn er sich für mich entscheiden sollte, selbst wenn er sein Priesteramt aufgeben und seine innig geliebte Kirche verlassen sollte, würde das schlechte Gewissen weiter zwischen uns stehen wie seine unsichtbare Geliebte. Sie sah zu, wie die Wischerblätter gegen das Wasser ankämpften, das in Bahnen die Scheibe herunterfloss, und das trübe Licht draußen passte perfekt zu ihrer Stimmung.
    »Es dürfte knapp werden«, meinte er. »Hast du online eingecheckt?«
    »Gestern. Meine Bordkarte habe ich schon.«
    »Okay. Das spart dir ein paar Minuten.«
    »Aber ich muss noch meinen Koffer aufgeben. Meine Wintersachen haben nicht ins Handgepäck gepasst.«
    »Man sollte doch meinen, dass sie für einen Medizinerkongress einen sonnigen und warmen Ort aussuchen würden. Wieso muss es Wyoming im November sein?«
    »Jackson Hole soll sehr schön sein.«
    »Das sind die Bermudas auch.«
    Sie riskierte einen Seitenblick. Das Halbdunkel des Wageninnern verbarg die Sorgenfalten in seinem Gesicht, doch sie konnte die silbernen Strähnen in seinem Haar sehen, die sich immer weiter ausbreiteten. Wie sehr wir gealtert sind in diesem einen Jahr. Die Liebe hat uns nicht verjüngt – im Gegenteil.
    »Wenn ich zurück bin, fliegen wir irgendwohin, wo es warm ist, ja?«, sagte sie. »Nur für ein Wochenende.« Mit einem verwegenen Lachen fügte sie hinzu: »Ach was, vergessen wir doch einfach die Welt und bleiben einen ganzen Monat.«
    Er schwieg.
    »Oder ist das zu viel verlangt?«, fragte sie leise.
    Er seufzte matt. »Sosehr wir uns auch wünschen mögen, die Welt zu vergessen – sie ist immer da. Und wir müssen dorthin zurückkehren.«
    »Wir müssen überhaupt nichts.«
    Der Blick, mit dem er sie ansah, war unendlich traurig. »Das glaubst du nicht wirklich, Maura.« Er sah wieder auf die Straße. »Und ich auch nicht.«
    Nein, dachte sie. Wir glauben beide nur an unsere verdammte Verantwortung. Ich gehe jeden Tag zur Arbeit, bezahle pünktlich meine Steuern und tue, was die Welt von mir erwartet. Da kann ich noch so viel davon faseln, dass ich mit ihm durchbrennen und lauter wilde und verrückte Sachen tun will – ich weiß doch, dass ich es nie tun werde. Und Daniel auch nicht.
    Er hielt vor dem Eingang ihres Abflugterminals. Einen Moment lang saßen sie da, ohne einander anzusehen. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, ihre Mitreisenden zu beobachten, die am Express-Check-in warteten. Alle waren in Regenmäntel gehüllt – wie eine Trauergemeinde an einem stürmischen Novembermorgen. Sie hatte nicht die geringste Lust, den warmen Wagen zu verlassen und sich den Scharen verdrossener Reisender anzuschließen. Anstatt in diese Maschine zu steigen, dachte sie, könnte ich ihn bitten, mich wieder nach Hause zu fahren. Wenn wir nur ein paar Stunden länger Zeit hätten, um über alles zu sprechen, dann könnten wir vielleicht eine Lösung finden und unsere Beziehung retten.
    Jemand klopfte kräftig an die Frontscheibe, und als sie den Kopf hob, erblickte sie einen Flughafenpolizisten, der mit strenger Miene zu ihnen hereinschaute. »Das hier ist nur zum Entladen«, herrschte er sie an. »Sie können hier nicht stehen bleiben.«
    Daniel ließ die Scheibe herunter. »Ich setze die Dame nur ab.«
    »Aber lassen Sie sich nicht den ganzen Tag Zeit.«
    »Ich hol dein Gepäck«, sagte Daniel und stieg aus.
    Eine Weile standen sie fröstelnd an der Bordsteinkante, stumm inmitten der Kakofonie von dröhnenden Busmotoren, Hupen und Pfiffen. Wenn er mein Ehemann wäre, dachte sie, dann würden wir uns jetzt zum Abschied küssen. Aber zu lange schon hatten sie jede öffentliche Zurschaustellung von Zärtlichkeit peinlichst vermieden, und obwohl er an diesem Morgen seinen Priesterkragen nicht trug, wäre ihnen schon eine Umarmung zu gewagt erschienen.
    »Ich muss nicht zu diesem Kongress fliegen«, sagte sie. »Wir könnten die Woche zusammen verbringen.«
    Er seufzte. »Maura, ich kann jetzt nicht einfach eine ganze Woche verschwinden.«
    »Und wann kannst du?«
    »Ich brauche Zeit, um meinen Urlaub zu organisieren. Wir fahren schon noch zusammen weg, das verspreche ich dir.«
    »Es muss immer irgendwo anders sein, nicht
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