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Totenfeuer

Totenfeuer

Titel: Totenfeuer
Autoren: Susanne Mischke
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menschliche Leib da auf der Schaufel ist nicht die erste verbrannte Leiche, mit der er konfrontiert wird, aber es ist auch nicht der grässliche Anblick, der ihn lähmt und ihm den Magen umdreht, sondern das Gefühl, dass soeben eine Grenze überschritten wurde.
    Tod und Gewalt sind Dinge, denen er sonst nur im Dienst begegnet, wohlvorbereitet durch einen Anruf der Leitstelle und die Fahrt zu einem Leichenfundort, wo meistens schon die Spurensicherung auf ihn wartet. Jetzt hat ihn das Grauen völlig überraschend und mit seiner ganzen elementaren Wucht dort getroffen, wo er es am wenigsten erwartet hat: in seinem Refugium, an dem Ort, an dem er sich normalerweise davon erholt. Seine zwei Welten haben sich überschnitten. Schweiß bricht ihm aus allen Poren, er ringt nach Luft. Hektisch reißt er am Kragen seiner Jacke und redet sich ein, dass es an der Hitze des Feuers liegt, dass seine Atemnot mit dem Sauerstoff zu tun hat, den die Flammen verzehren. Dann, ganz langsam, beginnt sein Polizistenhirn wieder zu arbeiten. Die Tragödie mit den verbrannten Jugendlichen, auf die seine Tischgenossin vorhin anspielte, fällt ihm ein. Nein, unmöglich. Dieser Junge müsste ja nicht nur die vorangegangene Nacht, sondern auch den ganzen Tag in dem unbequemen Haufen verbracht haben. So betrunken kann man ja gar nicht sein, oder?
    Den Schrecksekunden folgt ein großes Durcheinander. Entsetzte weichen schockiert zurück und prallen auf die ersten Neugierigen, die sich nach vorn drängeln. Schlichtere Gemüter bleiben einfach gaffend stehen, Teenager kreischen, Eltern brüllen hysterisch nach ihren Kindern und zerren sie weg, als würde von dem Leichnam eine unmittelbare Gefahr ausgehen.
    Auch Völxen gerät nun endlich in Bewegung. Reflexartig fasst er Sabine bei den Schultern und dreht sie herum. Viel zu spät natürlich. Solche Bilder, das weiß er aus Erfahrung, fräsen sich binnen Sekundenbruchteilen unauslöschlich ins Gehirn. Wanda! Wo ist Wanda? Er kann sie nirgends sehen. Mechanisch zieht er das Handy aus der Brusttasche seiner Jacke und informiert die Leitstelle in kurzen Worten über den Vorfall.
    »Mensch, Kalle, mach doch mal den Motor aus!«, ruft jemand. Der verwirrte Fahrer stellt endlich den Trecker ab, springt herab und weicht stolpernd zurück, als er sieht, was er da aus der Glut aufgegabelt hat.
    Die ersten Fotoblitze zucken auf. Ein rasch anschwellender Zorn vertreibt nun die letzten Reste von Völxens Lethargie. Denn im selben Moment, in dem er diese widerliche Smartphone-Bande, diese schamlosen, schäbigen Voyeure, denen nichts, aber auch gar nichts mehr heilig ist, verflucht, sieht er seine Tochter Wanda, die ebenfalls ihr Fotohandy auf die Leiche gerichtet hat.
    Bodo Völxen hat seine Tochter nie geschlagen, und wenn es ihm doch einmal nötig erschien, hat er den Konflikt an Sabine delegiert. Aber in diesem Moment verspürt er einen sehr starken Drang, das Versäumte nachzuholen. Mit den Worten »Hast du denn überhaupt keinen Anstand mehr?« packt er ihren erhobenen Arm und reißt ihr den Apparat aus der Hand. Wanda will protestieren, aber als sie die unbändige Wut im Gesicht ihres Vaters sieht, hält sie lieber den Mund.
    Völxen hat alle Schwäche endgültig überwunden. Er holt tief Luft und brüllt: »Hier spricht Hauptkommissar Völxen von der Polizeidirektion Hannover. Alle Anwesenden verlassen jetzt bitte sofort die Feuerstelle und machen den Weg für die Einsatzfahrzeuge frei!«
    Die Mehrzahl der Leute scheint nur darauf gewartet zu haben, dass ihnen jemand sagt, was sie tun sollen. Man weicht zurück. Ein paar hartnäckig Fotografierende brauchen jedoch eine deutlichere Aufforderung: »Verschwindet, ihr Idioten, ehe ich mich vergesse!« Und einen jungen Mann muss Völxen tatsächlich am Kragen packen und ihn unter Androhung wüster Gewalt eigenhändig wegzerren. Als das geschehen ist, wendet er sich um zu Frau und Tochter und raunzt beide an: »Los, steht hier nicht rum. Stellt euch an den Weg und notiert Namen und Adressen der Leute. Das sind alles Zeugen.«
    Feiertage sollten abgeschafft werden! Jule Wedekin geht zum Kühlschrank und gießt sich ein Glas Pinot Grigio ein. Kein Alkohol vor Sonnenuntergang, diese Regel hat sie sich selbst gesetzt. Aber nun ist es fast dunkel, und ein Glas ist drin, auch wenn sie Dienst hat. Früher hat sie Sonntage und Feiertage herbeigesehnt und genossen, doch seit einigen Monaten sind sie für Jule die schiere Qual. Ostersonntag. Das heißt, morgen droht noch
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