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Totenbuch

Totenbuch

Titel: Totenbuch
Autoren: Patricia Cornwell
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und galt als
ausgesprochen eingebildet und rechthaberisch. Der dottore ist ein
attraktiver, ja sogar schöner Mann mit einer Schwäche für hübsche Frauen und
auffällige Kleidung. Heute trägt er eine mitternachtsblaue Uniform mit breiten
roten Litzen und funkelnden Silberknöpfen und dazu blitzblanke Lederstiefel. Am
Morgen ist er mit einem rot gefütterten Cape hereingerauscht.
    Nun sitzt er direkt vor Scarpetta in der Mitte der
ersten Reihe und lässt sie kaum einen Moment aus den Augen. Rechts von ihm hat
Benton Wesley Platz genommen, der die meiste Zeit schweigt. Alle Anwesenden
tragen 3 -D-Brillen, die mit dem Tatort-Analyse-Programm vernetzt
sind, eine geniale Erfindung, um die sämtliche Ermittlungsbehörden weltweit die Unita per l'Analisi del Crimine Violenti der Polizia
Scientifica Italiana beneiden.
    »Offenbar müssen wir das noch einmal durchgehen,
damit Sie meinen Standpunkt verstehen«, sagt Scarpetta zu Capitano Poma, der
inzwischen das Kinn in die Hand gestützt hat, als handle es sich um ein
Plauderstündchen bei einem Glas Wein. »Wäre Drew Martin zwischen vierzehn und
fünfzehn Uhr nachmittags ermordet worden, hätte sie beim Auffinden der Leiche
gegen acht Uhr dreißig am folgenden Morgen seit mindestens siebzehn Stunden
tot sein müssen. Allerdings sprechen livor
mortis, rigor mortis und algor mortis - also
Totenflecken, Leichenstarre und Körpertemperatur - eine andere Sprache.«
    Mit einem Laserpointer weist Scarpetta auf die
dreidimensionale Darstellung der schlammigen Baustelle auf der Projektionswand.
Es kommt einem vor, als stünde man selbst mitten zwischen herumliegendem Schutt
und Baustellenfahrzeugen am Tatort und betrachte Drew Martins entstellte
Leiche. Der rote Laserpunkt des Zeigestabs gleitet die linke Schulter, das
Gesäß und das Bein des Opfers entlang bis hinunter zum nackten Fuß. Die rechte
Gesäßhälfte fehlt, ebenso wie ein Teil ihres rechten Oberschenkels, als wäre
die Tote von einem Hai angegriffen worden.
    »Livor mortis ...«, setzt Scarpetta zum Sprechen an.
    »Ich muss mich entschuldigen. Mein Englisch ist
nicht so gut wie Ihres. Ich bin nicht sicher, was dieses Wort bedeutet«, unterbricht
sie Capitano Poma.
    »Ich habe es bereits vorhin benutzt.«
    »Auch da habe ich es nicht richtig verstanden.«
    Allgemeines Gelächter. Außer der Dolmetscherin ist
Scarpetta die einzige Frau im Raum. Während die beiden den Capitano nicht sehr
komisch finden, geht es den Männern da offenbar anders. Einzige Ausnahme ist
Benton, der den ganzen Tag noch nicht einmal gelächelt hat.
    »Kennen Sie das italienische Wort dafür?«, will
Capitano Poma von Scarpetta wissen.
    »Warum halten wir uns nicht an die Sprache des alten
Rom?«, gibt Scarpetta zurück. »Latein. Schließlich stammt der Großteil der
medizinischen Fachterminologie aus dem Lateinischen.« Ihr Tonfall bleibt zwar
höflich, ist aber bestimmt. Denn sie weiß genau, dass Pomas Englischkenntnisse
schlagartig nachlassen, wenn es ihm in den Kram passt.
    Als er sie durch seine 3 -D-Brille
anstarrt, fühlt sie sich an Zorro erinnert. »Italienisch bitte«, meint er zu
ihr. »Latein war noch nie meine Stärke.«
    »Wenn es denn sein muss. Livor heißt auf Italienisch livido, also
blutunterlaufen. Mortis ist morte, also der Tod. Livor
mortis bezeichnet demzufolge das
Auftreten von Blutergüssen nach dem Tod.«
    »Es ist sehr hilfreich für mich, wenn Sie
italienisch sprechen«, erwidert Poma. »Außerdem können Sie es sehr gut.«
    Allerdings hat Scarpetta nicht vor, ihren Vortrag
auf Italienisch zu halten, auch wenn sie diese Sprache einigermaßen fließend beherrscht.
Fachgespräche führt sie lieber auf Englisch, da es häufig auf Nuancen ankommt.
Außerdem fällt ihr die Dolmetscherin ohnehin ständig ins Wort. Die
Sprachbarriere, das Kompetenzgezerre, der Zeitdruck und der Umstand, dass
Capitano Poma sich ständig in Szene setzen muss, komplizieren die Situation
noch zusätzlich, obwohl diese Faktoren nicht das eigentliche Problem darstellen.
Die eigentliche Schwierigkeit liegt darin, dass es keine Präzedenzfälle gibt
und dass der Täter in keines der üblichen Profile zu passen scheint, was
ziemlich verwirrend ist. Nicht einmal den wissenschaftlichen Ergebnissen kann
man vertrauen. Es ist, als wollten die Fakten die Ermittler verhöhnen, sodass
Scarpetta sich und allen anderen immer wieder vor Augen halten muss, dass Laborwerte
niemals die Unwahrheit sagen, ganz gleich, wie fehlerhaft und trügerisch sie
dem
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