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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen
Autoren: Richard Calder
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Bett brachte, hatte sie mir oft Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt. Über den Bauernhof in der Nähe von Bratislava. Über Sommerspaziergänge durch die Karpaten ... Ich schlug so plötzlich auf dem Boden auf, als hätte mich einer von Primaveras Zaubersprüchen erwischt: eine von der einheitlichen Feldtheorie nicht vorausgesehene Dimension, etwas, das es gar nicht hätte geben dürfen! Teppichborsten drangen mir in den Mund. Meine Adern waren voller Eis ‒ wie beim Anblick einer geliebten Frau, nur dass ich kein Vergnügen empfand ‒, und meine Muskeln waren erstarrt. Ich war zu einer Statue geworden, die von ihrem Sockel gefallen war. Tik-tik-atikka, machte der Drumcomputer. She did the hula-hula . Tik-tik-atikka. And then I had to shoot her. Tik-tik-atikka. C-cos she’d stolen my computer .
    Ich erblickte mein paralysiertes Gesicht in einer Schuhspitze aus Lackleder.
    »Sir, Sir?«
    »Alles in Ordnung«, sagte Morgenstern. »Das ist ein Freund von mir. Unser Wagen steht draußen. Sind Sie so nett und helfen mir?«

3
Beata Beatrix
    Auf der Ploenchit Road verwandelte sich die Stretch-Limousine in ein Amphibienfahrzeug. Ich war bei Bewusstsein, konnte mich jedoch nicht bewegen und starrte mit Augen wie Schmelzglas ohne zu blinzeln durch die vom Spritzwasser fleckige Windschutzscheibe auf das schwarze Wasser des Khlong. Hochhäuser, Einkaufszentren und jeux vérités -Spielhallen säumten den Kanal wie riesige Seerosen, und ihr fotoelektrischer Saft ergoss sich in das tote, zähflüssige Meer ‒ ein Meer, das sich die Stadt der Engel zurückerobert und sie wieder zum Venedig des Ostens gemacht hatte. Aus dem Wasser ragten die Stupas versunkener Tempel, Überreste einer ausgestorbenen Kultur. Der Verkehr, der die gedemütigten Türme mit seinem blasphemischen Slalom bespritzte, schimmerte hinter einem Schleier aus phosphoreszierenden Gasen hervor. Der Smog aus Benzin und Methan wurde von den grünen Lasern und Flutlichtern holografischer wie mechanischer Reklamewände erleuchtet, vom grünen Quecksilberglanz der unter Wasser befindlichen Verkehrsschilder und von den grünen Papierlaternen, die in den angrenzenden Gassen an den Geschäften hingen. Wetterleuchten zuckte über den mondlosen Himmel. Für einen Moment löste sich der grüne Filter auf, und die Stadt wurde sepiafarben wie eine beschädigte Kopie von Fritz Langs Metropolis . Dies war eine Art-nouveau-Stadt, Gestalt gewordener Artdéco, die sehnigen, wogenden Linien und der geometrische Chic ein Abklatsch der Moden des Aube du millénaire , den Slums ‒ eine Erbschaft des 20. Jahrhunderts ‒ und den architektonischen Wundern aus grauer Vorzeit künstlich aufgezwungen. Wieder senkte sich das grüne Leichentuch herab, eine veritable Waschküche, eine brandige Membran, vom Verwesungsdunst der tropischen Nacht umwabert. Schwebebahnen und Fußgängerbrücken mit ihren dichtgedrängten Menschenhorden glitten über uns hinweg; Gyrokopter mit ihren Bonzen an Bord schwebten wie in Stahl gehüllte Libellen über den stehenden Gewässern der Stadt. Wieder blitzte es; dann begann es zu regnen, und die grünstichige Nacht gerann, sodass wir uns durch Meerestiefen zu bewegen schienen. Grün, war die Farbe dieses Jahres; grün, die Farbe der Verderbtheit; ein Grün, so leuchtend wie ein mir wohlvertrautes Augenpaar.
    Ich konnte sie sehen, ganz verschwommen am Rande meines Gesichtsfelds. Sie war geknebelt, und Blut rann ihr aus dem Mundwinkel; ihr Kleid (das Dermaplast pochte an meiner Hüfte) war hochgeschoben, und etwas, das einem Keuschheitsgürtel ähnelte, umschloss ihre Taille und ihr Perineum. Unterhalb der Taille war das Kleid zerrissen und blutete mitternachtfarben; durch den Riss verschwand ein Glasfaserkabel in ihrem Nabel. Teil eines Rastertunnelmikroskops vielleicht? Oder ein Ovipositor, der eine Brut bösartiger kleiner Maschinen absonderte? Was auch immer es war, es hatte Primaveras Zauberkasten fest verschlossen. Genau wie ich saß sie auf dem Vordersitz der Limousine, als wäre sie eine Schaufensterpuppe, die zu ihrem Ausstellungsort gefahren wurde.
    Morgenstern las mir die Frage an den blicklosen Augen ab. »Sechs Männer mussten sie festhalten«, sagte er. »Zwei davon sind unterwegs ins Krankenhaus. Dabei hatten sie sogar Partikelwaffen! Schade um Monsieur Sabatier. Er war ausgesprochen kooperativ. Ich fürchte, die Laufstege von Paris werden nächste Saison auf ihn verzichten müssen. Ein weiterer Nagel in Europas Sarg. Erst der Crash, dann
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