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Tote gehen nicht

Tote gehen nicht

Titel: Tote gehen nicht
Autoren: Carola Clasen
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eine Etage höher fahren. Sie hasste Aufzüge.
    Sie traf Edgar danach den ganzen Tag nicht mehr. Er wartete auch nicht nach Dienstschluss, so wie früher, auf der Elsa-Brandström-Straße auf sie. Enttäuscht nahm sie den Bus und ließ sich im Gedränge nach Hause fahren. Auf ihrem Anrufbeantworter war keine Nachricht von ihm und auf dem Rechner keine Mail. Unruhig wartete sie auf den späten Abend und auf die Schritte vor seinem Haus in der Dunkelheit. Sein Briefkasten war leer. In seinem Arbeitszimmer brannte Licht. Sie verstand es nicht.
    Auch der nächste Tag war mysteriös. Auch die folgenden Tage blieben es. Sie konnte es sich nur so erklären: Er kämpfte gegen das Gespenst. Einen einsamen und unerbittlichen Kampf, mit dem er sie nicht belasten wollte. Bestätigung für ihre Theorie fand sie in seinem vagen Lächeln bei ihrem Anblick, seiner Aufmerksamkeit, wenn sie eine dienstliche Frage stellte, und in seiner Höflichkeit, wenn er ihr die Tür aufhielt. Unübersehbare, unmissverständliche Zeichen. Dazu bedurfte es keiner großen Phantasie. Besonders wenn sie an den Zeigefinger dachte, den er mehr als einmal auf den Mund legte. Sie hatten ein gemeinsames Geheimnis!
    Dafür war Rita bereit, jeden Preis zu zahlen. Denn da war die Garantie, dieses Mal würde es mit Edgar und ihr gut gehen. Es musste. Sie wollte es so. Sie waren füreinander bestimmt. Sie hatte es schon damals im Kaufhof gewusst.

2. Kapitel
    26. April, 10.15 Uhr Forsthaus, Wolfgarten
    Begleitet von chinesischem Kling-Klang-Klong, das aus dem Fenster der Wohnküche hinaus in den Nationalpark Eifel perlte, arbeitete Hauptkommissarin Sonja Senger am Webstuhl, hob die Nadel vom Meeresboden auf, breitete die Arme aus, drehte, blockierte, parierte und stieß zu, kreuzte die Hände, schloss das Chi und verbeugte sich gen Osten, wo die Sonne schon vor einer ganzen Weile aufgegangen war.
    Außer Puste ließ sie sich danach dreimal gegen die Haustür ihres Forsthauses fallen, ehe diese quietschend nachgab. Sie schaltete die Musik ab, stapfte die Stiege ins Dachgeschoss hoch und stellte sich unter die Dusche.
    Die Tai-Chi Übungen, die sie seit 14 Tagen jeden Morgen im Vorgarten vollführte, waren anstrengender, als sie aussahen. Sie hatte sich für die Peking-Form entschieden, die aus 24 Folgen bestand, und trainierte nach den Angaben eines Lehrbuchs des chinesischen Alt-Meisters Bai-Lui-Ze-Yong, welches aufgeschlagen neben ihr auf der Ofenbank lag, damit sie, ehe sie aus dem Takt kam, schnell nachsehen konnte, wie es weiterging.
    Auf der Suche nach der passenden Begleitmusik wäre sie beinah den esoterischen Klängen eines Oliver Shanti erlegen, wenn sie nicht beim weiteren Googeln entdeckt hätte, dass der Mann mit der sanften Stimme Ende 2009 wegen Kindesmissbrauchs zu sechs Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Entsetzt ließ sie ihn fallen und wandte sich einer chinesischen Combo zu, die noch nicht strafrechtlich auffällig geworden war.
    Anfangs hatte sie beim Training einen Schlafanzug getragen und war sich vorgekommen wie ein germanisches Trampeltier. Aber seitdem sie sich den traditionellen schwarzen Anzug – bestehend aus einer weiten Dreiviertelhose und einer langen Jacke mit Stehkragen – angeschafft hatte, fiel es ihr leichter, sich harmonisch im Takt der China-Musik zu bewegen, während im Osten nach wie vor die Sonne aufging.
    Als Sonja Senger nach der morgendlichen Prozedur die Wohnküche betrat, riss sie als Erstes ein Blatt vom Tischkalender ab, den ihr die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zusammen mit einem gelben Frustball und einer grünen Broschüre geschickt hatte.
    Schon 14 Tage! – So langsam attestiert Ihnen Ihr Umfeld Charakterstärke und Vorbildfunktion .
    »Welches Umfeld?«, brummte Sonja im Selbstgespräch, und West, der dunkelgraue Kater, beäugte sie kritisch.
    Sonja Sengers Umfeld bestand aus ihrem kleinen Forsthaus am Ortsrand von Wolfgarten und am Ende einer inzwischen nicht mehr sichtbaren, weil unterirdisch verlegten Stromleitung, in dem außer ihr und dem alten Kater West niemand mehr lebte.
    Ein Zufluchtsort. Vom ersten Tag an, als sie es gesehen hatte, wusste sie, dass es immer so sein würde, gleichgültig was geschah. Darum hatte sie es gekauft. Nicht, weil es in einem verwilderten Garten und mitten im Nationalpark Eifel lag. Auch nicht, weil von Anfang an die Haustür so verzogen war, dass man sich dreimal dagegen fallen lassen musste, bevor sie sich öffnete. Nicht, weil
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