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Tote gehen nicht

Tote gehen nicht

Titel: Tote gehen nicht
Autoren: Carola Clasen
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hätte aufhalten können.
    Hand an den Griff, Fuß auf die Schwelle, zwei Stockwerke hinauflaufen, klingeln, Edgar den Umschlag in die Hand drücken. Ich habe hier etwas für dich, würde sie sagen.
    Aber die Haustür fiel schon ins Schloss. Das Licht erlosch. Der Moment war vorbei. Sie holte den Umschlag aus ihrer Schultertasche und betrachtete ihn. Ein weiteres Mal hob sie die Klappe des Briefkastens hoch und blickte hinein. Das Fach war leer. Reichlich Platz für den Umschlag, der endlich vorsichtig durch den Schlitz geschoben wurde. Als Rita ihn losließ, fiel er dumpf auf den Grund. Ihre Fingerspitzen konnten ihn noch ertasten, aber nicht mehr herausholen. Sie zog ihre Hand zurück. Die Klappe fiel zu. Leises Scheppern. Es war vollbracht.
    Die halbe Nacht schlug sie sich danach in ihrem Bett um die Ohren und quälte sich mit den Gedanken an den morgigen Tag. Sie wälzte sich von einer zur anderen Seite. Edgar und sie hatten morgen die gleiche Schicht. Vielleicht rief er sie schon in aller Frühe an, sobald er seine Zeitung aus dem Briefkasten geholt, den Gutschein entdeckt und das Erkennungszeichen auf ihm erkannt hatte.
    Sie sprang auf, machte Licht und kontrollierte, ob ihre Telefone funktionierten. Sie wählte von ihrem Handy aus ihre Festnetznummer. Und umgekehrt. Sie stellte die Ruftöne lauter. Sie nahm beide Telefone mit ans Bett und legte sie neben ihr Kopfkissen. Sie löschte das Licht, und die Finsternis ergoss sich über sie wie Regen. Mit offenen Augen lag sie in der Dunkelheit und malte sich aus, wie er morgen nach dem Dienst hinter einer Straßenecke auf sie wartete und sie mit seinem Auto nach Hause fuhr. Sie hatten ihre Beziehung immer möglichst diskret gehalten. Er würde ohne Unterlass reden, ihr danken, erklären, versichern, bedauern, beteuern ... alles nur ein Missverständnis ... er brauchte eine Auszeit ... gleichgültig, was er sagen würde, sie würde ihm verzeihen. Sie musste bei der Vorstellung lächeln, wie erleichtert Edgar sein würde, wenn endlich alles gesagt, wenn alles wieder gut war. Wenn das Gespenst in seinem Kopf endlich vertrieben war. Ohne Operation. Sie musste morgen unbedingt etwas Besonderes für diesen besonderen Tag anziehen.
    Als Rita am nächsten Morgen die gläsernen Eingangstüren zur Klinik aufschob, lief Edgar gerade die Treppe hinauf. Er war früher als gewöhnlich – und im Anzug, er nahm zwei Stufen auf einmal, nicht wie sonst den Aufzug. Seine linke Hand schwebte über den Lauf des Treppengeländers, unterm rechten Arm steckte eine Zeitung, in der Hand hing seine Aktentasche.
    Rita setzte einen Fuß auf die unterste Stufe, blieb wie gebannt stehen und blickte an der Spirale des schmiedeeisernen Geländers die Stockwerke hinauf. In der Kurve zum dritten Stock wurde er auf sie aufmerksam, blieb stehen und legte den Finger auf den Mund. Er trug eine Krawatte. Eine Locke fiel ihm in die Stirn. Seine Nase kräuselte sich.
    Sie konnte es kaum fassen. Er hatte sich schön gemacht. Für sie! So wie sie für ihn. Sie erstarrte fasziniert. Ihre linke Hand wollte das Geländer nicht loslassen, die rechte hing wie gelähmt an ihrer Seite. Ihr Mund stand leicht offen. Während ihre Augen ihn weiter verfolgten, nahmen ihre Füße wie von selbst die Treppe, Stufe um Stufe. Als Edgar abbog und aus ihrem Blickfeld entschwand, stolperte sie. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel auf die Knie und faltete die Hände:   Er kommt zu mir zurück .
    »Amen!«, rief eine weibliche Stimme forsch hinter ihr.
    Rita fuhr herum. Sie kannte die Frau nicht, die sich da über sie lustig machte, aber das hatte nichts zu bedeuten, sie kannte hier kaum jemanden. Schnell rappelte sie sich auf und wischte den Staub von den Knien. Ihre schwarze Strumpfhose hatte den Sturz nicht vertragen, mitten auf der Kniescheibe zeichnete sich eine Laufmasche ab.
    »Schlimm?«, fragte die Frau und musterte Rita, die heute ein schwarzes Kleid und schwarze Schuhe mit hohem Absatz trug.
    Rita schüttelte den Kopf. »Ich bin nur gestolpert.«
    Resolut griff die Frau unter ihren Arm. »Wohin müssen Sie denn?«
    »In den dritten.«
    »Dann nehmen Sie doch den Aufzug.« Sie zog Rita die Treppenstufen hinunter, führte sie zum Aufzug und drückte für sie auf den Knopf. Sie wartete, bis die Kabine im Erdgeschoss ankam, und schob sie hinein. »Wir sind nämlich voll auf der Chirurgie.« Wieder dieses Lachen.
    Die Frau bog in einen Gang ab, und Rita drückte nicht den Knopf zum dritten Stock, sondern ließ sich nur
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