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Tote essen kein Fast Food

Titel: Tote essen kein Fast Food
Autoren: Karin Baron
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vorwärts, den Blick stur geradeaus auf Mia gerichtet beziehungsweise auf die Stelle, wo sich die Nebelfetzen vor ihr wieder zu einer weißen Wand geschlossen hatten. Das war ein Fehler. Einen Rest Aufmerksamkeit wenigstens hätte ich auf mich selbst konzentrierensollen. So genügte eine Sekunde der Unachtsamkeit, um die Rettungsaktion beinahe scheitern zu lassen. Ich übersah eines der Seetangpolster zu meinen Füßen. Als ich mit dem rechten Fuß darauftrat, kam ich ins Rutschen. Unaufhaltsam. Meine Finger griffen ins Nichts. Die glatte Betonoberfläche der Poller bot keinerlei Halt und mit einem gellenden Schrei stürzte ich in die anthrazitgraue See, die sich an den Pollern brach und über mir zusammenschlug. Ich schluckte eine satte Portion Salzwasser, während ich versuchte, mich irgendwo am Damm festzuhalten und gleichzeitig einen Sicherheitsabstand zu wahren.
    Verzweifelt krallte ich mich an einem Tau-Rest fest, den ich in einem Spalt zu fassen bekommen hatte. Bis ich den Kopf endlich über Wasser bekam, waren meine Klamotten bis auf die letzte Faser durchnässt und zogen mich hinunter Richtung Meeresboden. Mit den Füßen versuchte ich, irgendwo Halt zu finden, doch vergeblich. Gleichzeitig machte die nasse Kleidung mich zentnerschwer und ich spürte, wie meine Kraft nachließ. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Angst kroch mir in jede Körperzelle. Sollte ich hier jetzt auch noch draufgehen?
    „Fanny, hier, versuch meinen Gürtel zu fassen.“ Gott sei Dank. Jan war da. „Fanny, los, versuch’s.“
    Die salzige Gischt brannte mir in den Augen. Ich griff nach dem Ende des grob geflochtenen Lederriemens, der über meinem Kopf baumelte, aber er glitschte mir immer wieder aus den Fingern. „Ich schaff’s nicht“, schrie ich und schluckte dabei noch mehr Wasser.
    „Du musst“, schrie Jan zurück.
    Verzweifelt strampelte ich mit den Beinen. Da, endlich!An einer Stelle unter Wasser war offenbar ein Stück Beton aus dem Poller herausgebrochen. Es gelang mir, meinen rechten Fuß in die Nische zu setzen. Gleichzeitig erwischte ich Jans Gürtel und konnte mich ein Stück hochziehen. Ich hatte das Gefühl, siebzig Kilo zu wiegen statt knapp fünfzig. Eineinhalb Meter über mir stemmte Jan sich mit den Füßen auf das nach innen verkantete Ende eines Pollers. Mit beiden Händen hatte er das Schnallenende seines Gürtels gepackt und zog mich Zentimeter für Zentimeter nach oben. Schließlich umfasste er mit einer blitzartigen Bewegung mein Handgelenk.
    „Das war knapp“, keuchte er, während er mich an sich zog und ich spürte, wie meine Muskeln nachgaben. Jans feuchte Locken klebten grün schimmernd statt blond an seiner Stirn und es tropfte daraus in mein Gesicht.
    Ich fühlte mich völlig ausgepumpt, unfähig, mich zu rühren. Aber eine Verschnaufpause konnten wir uns nicht erlauben. Wir mussten weiter. Da vorn lag Mia, und wir waren ihre einzige Chance. Ich musste mich zusammenreißen. Ich musste einen Fuß vor den anderen setzen. Und beide Hände dazu.
    Jan kletterte jetzt dicht hinter mir. Wir schoben und zogen uns gegenseitig, damit nicht noch mal einer abstürzte. Fast gleichzeitig erreichten wir das Mädchen, das zu der bleichen, auf der Wasseroberfläche treibenden Hand gehörte, und ich war mehr als froh, dass nicht ich jetzt an ihrer Stelle war. Leblos hing ihr Körper auf dem kalten Gestein. Der Kopf ruhte oberhalb der Holzpalette, ihre Augen waren geschlossen.
    Sie war zarter, als ich sie in Erinnerung hatte. Die Haareklebten ihr ums Gesicht wie störrische Rabenfedern. Ein dünnes hellrotes Rinnsal sickerte aus einer Wunde an der Schläfe und mäanderte, von der hochspritzenden Gischt zerstäubt, über ihre rechte Wange, wo es sich mit Spuren schwarzer Schminke vermischte. Ihr linker Fuß war zwischen zwei Betonteilen eingeklemmt und wirkte seltsam verdreht. Wie die Klaue eines Raubvogels krallte sich ihre linke Hand um eine schmale, aufgeweichte Pappschachtel mit blauen Streifen, deren obere Lasche abgerissen war und den Blick auf zehn Blisterfolien mit Tabletten frei gab.
    Es war Mia, daran bestand kein Zweifel, auch wenn sie der trotzigen Punk-Göre aus der Zeitung kaum mehr ähnelte. Zerbrechlich sah sie aus, wie sie da durchnässt und leblos zwischen der düsteren Betonstruktur hing, und überhaupt nicht mehr bedrohlich, so wie gestern Nacht bei dem Loch im Stollen oder noch vor ein paar Tagen, als ich mit Jan den Bunker unter dem Sansibar besichtigt hatte. Und sie lebte! Jan und ich waren nicht
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