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Total Recall

Total Recall

Titel: Total Recall
Autoren: Karlheinz Dürr (VS Mihr)
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Eltern zu beweisen: »Ich bin tapfer, Meinhard nicht, obwohl er ein Jahr und vierzehn Tage älter ist.«
    Meine Entschlossenheit zahlte sich im wahrsten Sinne des Wortes aus. Dafür, dass ich Meinhard abholte, bekam ich von meinem Vater 5 Schilling pro Woche. Meine Mutter nutzte meine Furchtlosigkeit und schickte mich einmal die Woche auf den Bauernmarkt zum Einkaufen. Der Weg dorthin führte ebenfalls durch einen finsteren Wald. Auch dafür bekam ich 5 Schilling, die ich freudig für Eis oder für meine Briefmarkensammlung ausgab.
    Die Sache hatte jedoch einen Nachteil: Meine Eltern nahmen Meinhard noch mehr in Schutz und kümmerten sich stärker um ihn als um mich. In diesem Sommer 1956 schickten sie mich in den Ferien zum Arbeiten auf den Hof meiner Patentante, während mein Bruder zu Hause bleiben durfte. Mir gefiel zwar die körperliche Arbeit, ich fühlte mich jedoch übergangen, als ich nach meiner Rückkehr erfuhr, dass meine Eltern mit Meinhard einen Ausflug nach Wien gemacht hatten.
    Wir entwickelten uns in unterschiedliche Richtungen. Während ich den Sportteil der Zeitung verschlang und bald die Namen sämtlicher Sportler kannte, entwickelte Meinhard eine Vorliebe für den Spiegel , den weder mein Vater noch meine Mutter lasen. Er machte es sich zur Aufgabe, jede Hauptstadt der Welt samt Einwohnerzahl sowie die wichtigsten Flüsse auswendig zu lernen. Das Periodensystem der chemischen Elemente und chemische Formeln konnte er herunterbeten. Er war besessen von Fakten aller Art und stellte unserem Vater immer wieder Fragen, um ihn auf die Probe zu stellen. Gleichzeitig entwickelte er eine Abneigung gegen jede Form körperlicher Arbeit. Er machte sich einfach nicht gern die Hände schmutzig. Schon bald ging er nur noch im weißen Hemd zur Schule. Meine Mutter machte diese Laune mit, beklagte sich aber bei mir: »Ich dachte, ich hätte schon alle Hände voll zu tun, die weißen Hemden deines Vaters zu waschen. Und jetzt fängt er auch noch mit den weißen Hemden an.« Schnell war man in der Familie der Meinung, dass Meinhard eines Tages einer Bürotätigkeit nachgehen und vielleicht sogar Ingenieur werden würde, während ich mir mein Geld als Arbeiter verdienen würde, weil es mir nichts ausmachte, mich körperlich zu betätigen. »Möchtest du nicht Mechaniker werden?«, fragten meine Eltern oft. »Oder wie wäre es mit Schreiner?« Oder sie dachten, ich würde Polizist wie mein Vater. Ich hatte andere Vorstellungen. Irgendwie hatte sich in mir der Gedanke festgesetzt, dass ich nach Amerika gehen würde. Ich hatte keine konkreten Vorstellungen. Einfach … Amerika. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam. Vielleicht wollte ich der Mühsal in unserem Dorf oder dem unerbittlichen Tagesablauf meines Vaters entkommen, vielleicht war es auch die Begeisterung, mit der ich jeden Tag nach Graz zur Schule fuhr, seit ich im Herbst 1951 dort in die fünfte Klasse der Hauptschule gekommen war, auf der Meinhard bereits war. Verglichen mit Thal war Graz eine echte Metropole, mit Autos, Läden und befestigten Gehsteigen. Es gab dort zwar keine Amerikaner, aber die amerikanische Kultur war überall präsent. Die Kinder spielten Cowboy und Indianer. In den Schulbüchern sahen wir Fotos von amerikanischen Städten, Vororten, Wahrzeichen und Highways, und auf klapprigen Projektoren wurden uns körnige Schwarz-Weiß-Filme über das Leben in den USA vorgeführt.
    Noch wichtiger war: Wir brauchten Amerika für unsere Sicherheit. In Österreich war der Kalte Krieg unmittelbar zu spüren. Wenn es eine Krise gab, musste mein Vater seinen Rucksack packen und wurde zur Verstärkung der Grenztruppen an die achtzig Kilometer weiter östlich liegende ungarische Grenze geschickt. Als die Sowjets 1956 den Ungarnaufstand niederschlugen, war mein Vater für die Versorgung von Hunderten Flüchtlingen zuständig, die in die Steiermark gekommen waren. Er richtete Auffanglager für sie ein und half ihnen bei der Weiterreise. Manche wollten nach Kanada, andere wollten in Österreich bleiben, und natürlich wollten auch viele in die USA. Er und seine Leute arbeiteten mit den Familien zusammen, und auch wir Kinder mussten helfen und Suppe austeilen, was bei mir einen tiefen Eindruck hinterließ.
    Unser Bild von der Welt wurde hauptsächlich durch das NonStop geprägt, einem bekannten Kino im Zentrum von Graz, in dem ausschließlich Wochenschauen gezeigt wurden. Die einstündigen Nachrichtenfilme liefen den ganzen Tag. Zuerst kamen Nachrichten aus
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