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Total Recall

Total Recall

Titel: Total Recall
Autoren: Karlheinz Dürr (VS Mihr)
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kommen und dort wieder für die Gendarmerie arbeiten konnte.
    Wenn die Männer betrunken waren, hörte ich sie manchmal über den Krieg reden. Ich kann erahnen, wie schmerzlich das für sie gewesen sein muss. Sie waren besiegt und geschlagen worden und hatten Angst, dass es noch nicht vorbei war, dass die Russen eines Tages kommen und sie zwingen würden, Moskau oder Stalingrad neu aufzubauen. Sie waren wütend. Sie versuchten, die Wut und die Demütigung zu unterdrücken, aber die Enttäuschung saß tief. Man muss sich das einmal vorstellen: Da wird einem versprochen, dass man Bürger eines großen neuen Reichs wird. Jede Familie soll in den Genuss aller erdenklichen Annehmlichkeiten kommen. Aber stattdessen kehrt man heim in ein zerstörtes Land, das in Trümmern liegt. Es gibt kaum Geld, die Lebensmittel sind knapp, und alles muss neu aufgebaut werden. Aber das Schlimmste ist, dass man keine Möglichkeit hat, das Erlebte zu verarbeiten.
    Mein Vater litt unter den Folgen seiner Verwundungen und der Malaria. Er hatte gesehen, wie seine Kameraden von Granaten zerfetzt wurden, wie sie verbluteten und im Sterben ihre letzte Zigarette rauchten. Er war in Stalingrad knapp der russischen Kriegsgefangenschaft entgangen. All das waren genug Gründe für ein schweres Trauma. Wie sollte er damit fertigwerden, wenn man nicht darüber sprach?
    Nicht nur die Erlebnisse meines Vaters, auch das gesamte Dritte Reich wurde offiziell totgeschwiegen. Alle Beamten – die Mitarbeiter der lokalen Behörden, die Lehrer und Polizisten – mussten sich dem Entnazifizierungsverfahren der Siegermächte unterziehen, bei dem sie befragt und ihr Werdegang überprüft wurde. So wollte man herausfinden, ob jemand ein überzeugter Nationalsozialist gewesen war oder sich gar in einer Position befunden hatte, die Kriegsverbrechen anordnen oder ausführen konnte. Alles, was mit der NS-Zeit zu tun hatte, wurde beschlagnahmt – Bücher, Filme, Plakate, sogar persönliche Tagebücher und Fotos. Man musste alles aufgeben. Der Krieg sollte aus dem Gedächtnis getilgt werden.
    Meinhard und ich bekamen das nur am Rande mit. Bei uns zu Hause gab es einen prächtigen Bildband, den wir, wenn wir »Priester« spielten, als Bibel verwendeten, weil er größer als unsere eigentliche Familienbibel war. Einer von uns stand da und hielt das Buch aufgeschlagen in der Hand, während der andere die »Messe« las. Das Buch war in Wirklichkeit ein Bildersammelalbum, das die Errungenschaften des Dritten Reichs propagieren sollte. Es gab verschiedene Kategorien – etwa große staatliche Bauvorhaben wie Tunnel und Dämme, Hitlers Auftritte und Reden, große neue Schiffe, wichtige Denkmäler oder Schlachten, die in Polen geschlagen worden waren. Anfänglich waren die Seiten leer und hatten nur numerierte Stellen. Wenn man einkaufte oder in eine Kriegsanleihe investierte, bekam man ein Bild mit einer Nummer, das man ins Album klebte. Wenn man alle Sammelbilder hatte, gab es einen Preis. Ich liebte die Bilder von prächtigen Bahnhöfen und starken, dampfenden Lokomotiven. Besonders faszinierte mich ein Bild, das zwei Männer auf einer kleinen Handhebeldraisine zeigte. Durch das Auf-und-ab-Bewegen des Hebels konnten sie sich allein mit Muskelkraft fortbewegen. Mir erschien das wie der Inbegriff von Abenteuer und Freiheit.
    Meinhard und ich hatten keine Ahnung, was wir uns da ansahen, doch eines Tages, als wir wieder Priester spielen wollten, war das Buch verschwunden. Wir suchten überall. Schließlich fragte ich meine Mutter, wo das schöne Buch sei: Immerhin war das unsere Bibel! Sie sagte nur: »Wir mussten es abgeben.« Später bat ich meinen Vater manchmal: »Erzähl mir vom Krieg.« Oder ich stellte ihm Fragen danach, was er getan oder durchgemacht hatte. Aber er sagte nur: »Da gibt es nichts zu erzählen.«
    Seine Lebensdevise war Disziplin. Wir hatten einen strengen, immer gleichen Tagesablauf: Wir standen um sechs Uhr auf, dann mussten Meinhard oder ich zum nächsten Bauernhof laufen und Milch holen. Als wir ein bisschen älter waren und anfingen, Sport zu treiben, kam zu unseren häuslichen Pflichten noch das Training hinzu. Unser Frühstück mussten wir uns mit Sit-ups verdienen. Nachmittags nach den Hausaufgaben und der Hausarbeit wurden wir nach draußen zum Fußballtraining geschickt, egal wie schlecht das Wetter war. Wenn wir nicht gut spielten, wussten wir, dass unser Vater uns ausschimpfen würde.
    Er war auch fest davon überzeugt, dass man sein Gehirn
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