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Total Recall

Total Recall

Titel: Total Recall
Autoren: Karlheinz Dürr (VS Mihr)
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Haushaltskasse war ebenfalls ihre Aufgabe. Als Büroangestellte war sie an Verwaltungsabläufe gewöhnt und konnte gut rechnen und schreiben. Wenn mein Vater seinen Lohn nach Hause brachte, gab sie ihm 500 Schilling als Taschengeld und behielt den Rest für den Haushalt ein. Sie kümmerte sich um den gesamten Schriftverkehr und bezahlte die monatlichen Rechnungen. Einmal im Jahr, im Dezember, ging sie mit uns Kleider kaufen. Wir fuhren mit dem Bus ins nahegelegene Graz und gingen ins Kaufhaus Kastner & Öhler. Das alte Gebäude hatte nur zwei oder drei Etagen, doch für uns war es so groß wie die Mall of America. Es gab dort Rolltreppen und einen Aufzug aus Metall und Glas, von dem aus wir alles sehen konnten. Meine Mutter kaufte nur das absolut Notwendige – Hemden, Unterwäsche, Socken und so weiter. Alles wurde sorgfältig in braunes Packpapier eingeschlagen und am nächsten Tag zu uns nach Hause geliefert. Damals waren Ratenzahlungen noch neu, aber meiner Mutter gefiel es, jeden Monat nur einen Teil der Rechnung zu bezahlen, bis alles getilgt war. Solche Angebote waren eine wirksame Methode zur Ankurbelung der Wirtschaft.
    Meine Mutter kümmerte sich auch um unsere Gesundheit, obwohl eigentlich mein Vater für Notfälle aller Art ausgebildet war. Mein Bruder und ich hatten jede erdenkliche Kinderkrankheit, von Mumps über Scharlach bis zu den Masern. Entsprechend versiert war meine Mutter in der Krankenpflege. Sie war einfach unermüdlich. Als wir noch klein waren, bekam Meinhard eine Lungenentzündung. Es war ein kalter Winterabend, und es stand kein Arzt oder Krankenwagen zur Verfügung. Also ließ meine Mutter mich daheim beim Vater, nahm Meinhard huckepack auf den Rücken und marschierte mit ihm über drei Kilometer durch den Schnee bis zum Krankenhaus nach Graz.
    Mein Vater war ein komplizierter Mensch, er konnte jedoch auch großzügig und liebevoll sein, vor allem meiner Mutter gegenüber. Die beiden liebten einander sehr, was man daran sah, wie sie ihm den Kaffee brachte oder er ihr kleine Geschenke machte, sie einander umarmten oder kleine Liebkosungen austauschten. Sie teilten ihre Zuneigung mit uns – wir durften immer zu ihnen ins Bett, vor allem wenn wir Angst bei einem Gewitter hatten.
    Aber etwa einmal die Woche, meist an einem Freitagabend, kam mein Vater betrunken nach Hause. Er saß bis zwei, drei oder vier Uhr morgens im Gasthaus an seinem Stammtisch, mit den anderen aus dem Ort, darunter oft auch der Priester, der Schulrektor und der Bürgermeister. Wir wachten auf, wenn er zornig durchs Haus polterte und meine Mutter anbrüllte. Die Wut hielt nie lange an, und am nächsten Tag war er wieder lieb und nett und führte uns zum Mittagessen aus oder schenkte uns eine Kleinigkeit, um sein Verhalten wiedergutzumachen. Aber wenn wir etwas angestellt hatten, gab er uns eine Ohrfeige oder verpasste uns mit dem Gürtel eine Tracht Prügel.
    Für uns war das völlig normal. Alle Väter schlugen damals ihre Kinder und kamen hin und wieder betrunken nach Hause. Unser Nachbar zog seinem Sohn die Ohren lang und jagte ihn mit dem Rohrstock, den er ins Wasser gelegt hatte, damit die Schläge noch schmerzhafter waren. Die Besuche im Wirtshaus gehörten einfach zum Dorfleben und waren im Großen und Ganzen auch harmlos. Manchmal leisteten die Frauen und Kinder den Familienvätern Gesellschaft, und wir Kinder empfanden es immer als Ehre, wenn wir bei den Erwachsenen sitzen durften und auch noch Nachtisch bekamen. Oder wir saßen im Nebenzimmer, tranken Limonade oder eine kleine Cola, spielten Brettspiele, blätterten in Zeitschriften oder sahen fern. Da saßen wir dann bis Mitternacht und dachten: »Mann, das ist toll!«
    Erst Jahre später erkannte ich, dass sich hinter der Gemütlichkeit Verbitterung und Angst verbargen. Wir wuchsen unter Männern auf, die sich als Verlierer fühlten. Ihre Generation hatte den Krieg begonnen und verloren. Im Krieg hatte mein Vater als Polizist bei den deutschen Streitkräften gedient. Er war in Belgien, Frankreich und Nordafrika gewesen, wo er sich mit Malaria angesteckt hatte. 1942 war er in Stalingrad und erlebte dort die grausamste Schlacht des Krieges. Das Haus, in dem er sich verschanzt hatte, wurde von den Russen bombardiert. Er war drei Tage lang unter den Trümmern eingeschlossen, war am Rücken verletzt und hatte Granatsplitter in beiden Beinen. Monatelang lag er in einem Lazarett in Polen, bis er so weit wiederhergestellt war, dass er heim nach Österreich
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