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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber
Autoren: Heinrich Steinfest
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Raum überheizt. Es stank nach kaltem Rauch, obwohl Vavra keine Zigaretten erhielt. Ein Kadaver von einem Sofa diente ihm als Bett. Zum Schlafen kam er freilich selten. Die traditionelle Masche. War er einmal eingenickt, wurde er unsanft geweckt, in einen gerätelosen Operationssaal eskortiert und mußte sich stehend die ständig gleichen Fragen anhören. Daß er hin und wieder einen Schlag erhielt, nahm er bereits mit einer gewissen Gelassenheit hin. Von einer gezielten Folter konnte man nicht sprechen, fand Vavra, die verhörenden Beamten waren schlicht ungehalten, eigentlich hilflos, auch nicht unfreundlicher, als es ihr Beruf verlangte. Das Stehen war die eigentliche Tortur. Eine Grippe schwächte ihn. Er fühlte sich, als habe er Sport getrieben. Gerne hätte er den anderen und sich selbst aus dem Dilemma herausgeholfen. Aber wie sollte ihm ein Geständnis gelingen, eines, das die Beamten auch zufriedenstellen würde? Er konnte keine Auskunft darüber geben, wo sich Sarah Hafner befand. Und darum ging es doch wohl.
    Am Abend irgendeines Tages – längst hatte er den Überblick verloren – erschien ein fetter Mensch mit der Gehetztheit des Freiberuflers in Vavras Zelle. Er trug einen altväterischen, dunklen Anzug, reinigte seine Brille am weißen Hemd, stöhnte über die schreckliche Luft, die Hitze, betrachtete kopfschüttelnd die Einrichtung, erregte sich über das Kreuz an der Wand, mein Gott, in welchem Jahrhundert lebe man eigentlich, nahm eine Packung aus seiner Sakkotasche, aus der er ein ganzes Rudel ineinander verschmolzener Schokoladekugeln zog und mit einer entschlossenen Bewegung in seinem Mund unterbrachte, kaute einige Zeit daran, um dann die Masse ebenso entschlossen hinunterzuschlucken. Jetzt schien er erleichtert, lehnte seinen Körper an den Schreibtisch und stellte sich als Dr. Grisebach vor, Rechtsanwalt, der hier sei, um seine, Vavras, Interessen zu vertreten.
    »Sie kommen spät«, sagte Vavra, der auf seinem Sofa liegenblieb, einfach, da er sich für Höflichkeiten zu schwach und deprimiert fühlte. Seine Bemerkung bezog sich darauf, daß ihm bisher – entgegen jeglicher vermuteter Rechtsstaatlichkeit – der Besuch eines Strafverteidigers verwehrt worden war. Ja, man hatte auf seinen Protest geradezu beleidigt und mit dem nebulösen Hinweis reagiert, höhere Interessen seien zu berücksichtigen. Auch Dr. Grisebach schien sich daran nicht zu stoßen und meinte: »Lieber Herr Vavra, wir wollen doch nicht kindisch werden.«
    »Natürlich nicht.«
    »Ausgezeichnet.«
    Grisebach sah sich um, als suche er verzweifelt nach einem geeigneten, einem unverfänglichen Gesprächsthema.
    »Wie ist das Essen?«
    Vavra gab keine Antwort, wies bloß mit einer knappen Geste auf den Emailtopf, der auf einem kniehohen Holztisch stand. Der Anwalt reckte seinen Kopf vor, erkannte – oder erahnte auch bloß – die Masse aus zerstampftem Gemüse, seufzte amüsiert, na ja, man sei ja auch nicht zum Essen hier, nicht wahr.
    »Also, Herr Vavra. Ich bin jetzt Ihr Anwalt. Ob Sie das freut oder ob es mich freut, darum geht es nicht. Es geht in erster Linie darum, Verfahren abzukürzen, Schmerzen zu lindern, Schmerzen, die eben aus der Überlänge von Verfahren resultieren. Ich will gar nicht wissen, welchen unglücklichen Umständen Sie Ihre Situation verdanken. Es mag Sie enttäuschen, aber wen kümmert schon Ihr Unglück. Keiner will wissen, warum Sie etwas getan haben, es reicht, daß Sie es getan haben.«
    Vavra richtete sich halb auf. Sein Zorn fuhr heilend durch seine Gelenke. Von der Polizei konnte er nichts verlangen, aber der Kerl hier war sein Anwalt.
    »Was, denken Sie, Grisebach, soll ich getan haben!« schnauzte er ihn an und fühlte sich sehr wohl dabei, auf den Titel dieses Herrn verzichtet zu haben.
    Grisebach lächelte milde, signalisierte, daß er als Rechtsbeistand noch lange nicht verpflichtet war, sich mit den Unschuldsbeteuerungen seiner Mandanten auseinanderzusetzen. »Bitte, bitte«, sagte er.
    »Worum?«
    »Reden wir Tacheles miteinander.«
    War der Kerl etwa Jude? Grisebach? Eine solche Vorstellung beunruhigte Vavra. Nicht daß er sich als Antisemit verstand. Er kannte keine Juden. Woody Allen, das war der einzige, soweit man das sagen konnte. Er mochte seine Filme. Aber konnte man sie jüdisch nennen? Schon richtig, daß man hin und wieder einen Orthodoxen auf den Straßen Wiens sah. Doch die besaßen etwas Unwirkliches, Geisterhaftes.
    »Sie müssen verstehen, Herr Vavra, niemand ist
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