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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber
Autoren: Heinrich Steinfest
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Sehen Sie sich doch all diese Hobbykriminellen an, die dann flennend, um Verzeihung heischend, vor den Gerichten stehen, bloß wieder sein wollen, was sie einst waren. Da werden Sie kein aufrechtes Haupt sehen. Aufrechte Häupter sind der Luxus der Professionellen und der Politischen, der Eliten auf der anderen Seite des Spektrums. Ich weiß, Vavra, wie Ihnen zumute ist. Daß Sie längst nicht mehr an das Geld denken, an das Sie ja doch nicht gelangt sind. Das kümmert Sie gar nicht. Die Vorstellung, die Sie wahnsinnig macht, ist die, ein Kind entführt zu haben. Damals dachten Sie, warum nicht ein Kind, immerhin das beste Druckmittel, irgend so ein verzogener Fratz, der mit Ponys und barocken Spieluhren aufgewachsen ist. Jetzt denken Sie nur noch: ein Kind. Das macht Sie krank. Und darum glauben Sie, Sie könnten sich in wüste Behauptungen flüchten, glauben, wenn man Sie nicht verurteilt, brauchen Sie auch sich selbst nicht zu verurteilen. Nun, ich kann Ihnen versichern, man wird Sie schuldig sprechen. Außer Sie sind endlich bereit, diese ganze hirnrissige Aktion zuzugeben und zu sagen, wo Sarah Hafner versteckt ist.«
    Warum eigentlich nicht, dachte sich Vavra und antwortete: »Taubenhofgasse 3.«
    »Ausgezeichnet«, sagte Grisebach, notierte die Adresse auf der Rückseite einer Eintrittskarte, lächelte noch einmal in den Raum wie in eine Kamera und verließ die Zelle.
    Vavra war müde gewesen, hatte diesen schrecklichen Menschen, diesen angeblichen Rechtsbeistand aus seiner Zelle haben wollen. Warum ihm ausgerechnet die Taubenhofgasse eingefallen war, konnte er nicht sagen. Er war in der Nähe dieser unbedeutenden Einbahnstraße in die Schule gegangen. Damals hatte die Taubenhofgasse einen durchaus bedeutenden Eissalon beherbergt, der jetzt nicht einmal mehr eine Legende war. Ob der altehrwürdige Schlüsseldienst noch existierte, konnte Vavra nicht sagen, denn er war schon viele Jahre nicht mehr in dieser Gegend gewesen, also auch sicher nicht vor kurzem, um dort eine entführte Industriellentochter unterzubringen. Zudem kannte er die Wohnung nicht, die er Grisebach angegeben hatte, irgendeine Taubenhofgassenwohnung eben.
    Er schlief ein. Wovon er auch immer träumte, seine Träume gefielen ihm. Das Gefängnis tat seinen Träumen gut, wenngleich sie nicht unbedingt als hübsch zu bezeichnen waren, da in ihnen eine beträchtliche Anzahl von Menschen in bedeutendem Maße Schaden nahm.
    Ob er das Grisebach zu verdanken hatte, konnte er nicht sagen. Aber zum ersten Mal ließ man ihn die Nacht durchschlafen. Kurz vor sieben stampfte einer von den weißgewandeten Wärtern in die Zelle und servierte das Frühstück: Kaffee und Croissant. Im Kaffee schwammen schwarzgrüne, runzelige Blätter, die als Seetang zu erkennen noch die optimistischste Vermutung darstellte. Das Croissant aber bot nicht bloß einen angenehmen Anblick, sondern erwies sich nach vorsichtiger Annäherung auch als durchaus schmackhaft, eigentlich als einzigartig. Exakt dieser Umstand schmälerte den Genuß und rang ihn nach dem zweiten Bissen völlig nieder. Denn das Hörnchen erinnerte an all jene, die Vavra in den vergangenen Jahren in der Bäkkerei Lukas erstanden hatte. Er war fest davon überzeugt, ein Lukascroissant von jedem anderen auseinanderhalten zu können, da jedes andere qualitativ abfiel. Das gibt es nicht, hatten seine Arbeitskollegen behauptet, aber Vavra hätte jeden Test bestanden, hätte er nicht abgelehnt, sich einem solchen zu unterziehen. Er wollte nicht, daß die Kunst, ein Croissant von einem anderen zu unterscheiden, zur Kuriosität verkam. Man konnte natürlich auch sagen, daß Herr Vavra Croissants betreffend ein wenig komisch war. Auf jeden Fall legte er das angebissene Backwerk auf den lichtgrauen Teller zurück, betrachtete es eingehend und fragte sich, wer hier die Fäden zog. Ein Zufall konnte das nicht sein. Daß die Bäckerei Lukas für ein Gefängnis oder Spital buk, war für Vavra unvorstellbar. Auch hatten die Frühstücke der letzten Tage aus ungenießbaren Donuts bestanden, deren Oberflächen von einem dichten Netz von Haarrissen bedeckt gewesen waren. Nein, dieses unverkennbare Lukascroissant auf seinem Tisch mußte ein Zeichen sein. Aber ein Zeichen wofür? Vavra zitterte, seine geschwollenen Augen schimmerten marmeladig, tief in seinem Magen nistete die Wut, was noch keinem Magen bekommen ist. Er ballte die Hand zur Faust und hätte sich beinahe vergessen, hätte beinahe auf das Croissant eingedroschen.
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