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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Lea Nicolai
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dahin fügte sie sich trotz des Jungen in den Zeitplan des Konvents ein, stand auf, wenn sich die anderen Hexenschülerinnen fertig machten, strömte mit ihnen in den Speisesaal und anschließend in die Werkstätten und Unterrichtsräume. Nicht eine Minute lang empfand sie Zweifel. Sie gehörte hierher.
    Im Hof begann es zu hageln. Eiskörner prasselten zum Fenster herein, streiften den Arm des Jungen. Lamar schrie erschrocken auf und begann wieder zu weinen.
    »Es ist alles gut, mein Süßer. Alles wird gut werden. Hab keine Angst«, sang Yvonne dem Kind ins Ohr.
    Sie wich einen Schritt vom Fenster zurück, löste die Spange an ihrem Kleid, entblößte die linke Brust und legte den Jungen an. Als Lamar zu saugen begann, schaute sie wieder zu den Fenstern der schwarzen Marquise empor. Die Vorhänge von Elinors Gemächern waren Tag und Nacht zugezogen. Bei ihrem Einzug hatte die Marquise einen ganzen Trakt beansprucht, und der Wunsch war ihr gewährt worden. Seitdem fragten sich Yvonne und die anderen Mädchen, was wohl hinter den schweren Gardinen und den verschlossenen Türen geschah.
    Ihnen war dieser Teil des Konvents streng verboten. Sie durften nicht einmal in die Nähe der Treppe kommen. Elinor begegneten sie nur im Speisesaal und bei gemeinsamen Veranstaltungen, und dann sprach die Marquise kein Wort. Sie schien sich ohnehin nur mit Esmee und Nevere, mit der Jägerin Josce oder Norani zu unterhalten. Und mit Ravenna, wenn sich diese auf dem Berg der Sieben blicken ließ.
    »Die achte Hexe«, murmelte Yvonne. Elinor hatte einen neuen Platz gefunden – genau wie sie. Der Zirkel hatte die verstoßene Schwester wieder in seine Mitte aufgenommen. Und Morrigan hatte der Hexe vom Hœnkungsberg eine neue Aufgabe gegeben.
    »Die Wissenschaft von der schwarzen Magie«, sagte Yvonne zu dem gierigen Baby in ihrem Arm. »Die Erforschung und Anwendung dunkler Hexenkunst. Das gesamte Wissen der Marquise vom Hœnkungsberg befindet sich nun hier auf dem Hexenberg. Eines Tages, mein kleiner Lamar, werden sich Elinors Gemächer vielleicht für mich öffnen.«
    Sie hatte gehört, wie die Sieben darüber gesprochen hatten, dass Elinor nach angemessener Probezeit ihr Können weitergeben sollte – an auserwählte junge Frauen, die die gesamte Ausbildung durchlaufen hatten und in ihrem Wissen und Wirken gefestigt waren.
    Yvonne lächelte, nahm das Kind von ihrer Brust und schloss ihr Kleid. Sie hatte sich geschworen, dass sie eines Tages zu diesen Auserwählten gehören würde. Doch bis dahin würde noch viel Zeit vergehen. Denn zunächst musste sie eine der Sieben werden. Eine Weiße Hexe.
    Über einer kleinen Feuerstelle hing ein Kessel. Das Wasser dampfte. Yvonne holte das Gefäß, füllte heißes Wasser in das Becken auf der Kommode und schöpfte einige Kellen kalten Wassers dazu. Mit der Hand prüfte sie die Temperatur. Dann zog sie Lamar aus.
    Im Drachenkelch solle sie ihn baden, hatte Lucian befohlen, nirgendwo sonst. Die Schale war das magische Erbe ihres Sohnes. Nur dort dürfe Lamar mit Wasser in Berührung kommen. Offenbar glaubte Lucian, der Kelch würde seinen Sohn vor Schaden bewahren.
    Yvonne seufzte. Wenn der junge König es so wollte, kam sie seinem Wunsch nach. Schließlich hatte auch Ravennas Ritter ihr verziehen – und das bedeutete ihr sehr viel. Dass Ravenna ihr nicht für den Rest ihres Lebens böse sein würde, hatte sie insgeheim gehofft. Doch wenn Lucian zornig war, konnte er sehr unnachgiebig sein. Fast wie sein Vater.
    »Und da er nun König der zwei Welten ist, ein König mit einer weißen und einer schwarzen Gabe noch dazu, bekommt er seinen Willen«, raunte Yvonne Lamar zu. Sie hob den splitternackten Jungen hoch und ließ ihn behutsam ins handwarme Wasser gleiten. Lamar fing sofort an zu plantschen. Sogar der heftige Gewitterguss, der ihn aus seinem Mittagsschlaf gerissen hatte, schien vergessen.
    Yvonne nahm die Seife, die sie selbst aus Schafsfett, Wollwachs und Asche gekocht hatte, schäumte ihre Hände ein und begann Lamar zu waschen. Eifrig versuchte er, nach den Blasen zu greifen. Seine Haut war weich und weiß und bildete Speckfalten um die Gelenke.
    Plötzlich zerriss ein gezacktes Licht den Himmel, so grell, dass es Yvonne blendete. Der Donner klang, als würde der Berg gespalten. Blinzelnd wischte sie sich über die Augen. Da bemerkte sie, dass der Eisenstab von Morrigans Statue in einem seltsamen Licht glühte. Die Figur der Hexengöttin ragte über den nassen Ziegeln auf, eine einsame
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