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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben
Autoren: Annette Mingels
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wird in die Luft katapultiert und der Mann schießt. Anne kann nicht erkennen, ob er getroffen hat. Müsste sie nicht die Scherben sehen? Wie sie, vom Aufprall der Kugel in alle Richtungen versprengt, hinabstürzen wie tote Vögel? Im Weitergehen dreht sie sich noch einmal um. Sieht den nächsten Schützen anlegen. Hört den nächsten Schuss.
    Erst wenn man die Hauptstadt verlässt, wird die Insel schön. Die sanft geschwungenen Dünen mit ihren blassen langmähnigen Gräsern. Die Landstraße, die sich von Süd nach Nord durch die Wiesen, Wälder und Dörfer windet. Die sumpfigen Deiche. In der Nacht die schwarzen Hügel. Mit Häusern bestückt wie mit Grabkerzen.
    Tristan sagt, sie solle doch nochmals kommen. Am besten gleich heute, wenn sie möge. Vielleicht am späten Nachmittag?
    Ja, sagt Anne. So gegen vier?
    Besser halb fünf.
    Für David schreibt sie einen Zettel, als sie geht. Wo sie ist. Dass das Essen im Kühlschrank steht. Sie legt den Zettel auf den Esstisch. Dann nimmt sie ihn und hängt ihn mit einem Magneten an den Kühlschrank.
    Das Blau ist aus dem Himmel verschwunden, fortgewischt wie eine Fehlfarbe. Der Winter, der kurz aufgehalten worden war, hat wieder die Führung übernommen. Noch schneit es nicht. Aber es riecht bereits nach Schnee. Sie hat eine Mütze aufgesetzt, Handschuhe in den Jackentaschen. Sie erinnert sich an den Muff, den sie als Kind besaß. Grau glänzendes Kaninchenfell. Im dichten Pelz ein Reißverschluss, ein Geheimfach. Einmal hatte sie überraschend ein Geldstück darin gefunden. Später hatte sie versucht, das zu wiederholen. Hatte Geld im Muff versteckt. Aber konnte es nie vergessen.
    Tristan fragt: Wie war dein Wochenende?
    Ganz gut, sagt sie.
    Ganz gut. Was heißt das schon? Aber wie kann sie ihm erklären, wie das war, ihre Schwester zu sehen mit dem Schweden. Wie der Christa behandelt hatte. Wie er sie beturtelte und im nächsten Moment beleidigte. Mit einem Lächeln, sodass sie anfangs gar nicht merkten, was er tat. Wie er sie und David zu Komplizen machte. Wie Christa sie manchmal fragend ansah, bevor sie einen Satz beendete. Dass er Christa malen wolle, sagte er, sie in Stein meißeln. Dass er sich, als er sie das erste Mal gesehen habe, genau das vorgenommen habe. Diesen Moment einzufangen. Dieses Gesicht, das noch nicht alt sei. Aber bald. Das Blühen bereits ein Verblühen. Christa hatte gelacht und gesagt: Danke auch. Und der Schwede hatte sich mit übertriebener Verwunderung an Anne und David gewandt. Ob die Eitelkeit nicht schweigen müsse vor der Kunst? Er hatte deutsch mit einem deutlichen Akzent gesprochen, archaische Worte benutzt: Ross, hurtig, Knabe, Weib. Als habe er sein Deutsch aus den Klassikern gelernt. Vollkommen verrückt, sagte David, als sie endlich alleine waren. Und Anne sagte: Ihre Männer werden immer schlimmer.
    Bei mir war es auch gut, sagt Tristan. Ein bisschen langweilig vielleicht. Aber erholsam.
    Er reicht ihr ein paar Blätter. Informationen zu beiden Berufen. Sie blättert darin, liest einzelne Worte, einen halben Satz. Fängt einen Abschnitt an, hört wieder auf. Legt die Blätter auf ihren Schoß.
    Ich glaube, sagt sie, das Makeln interessiert mich mehr.
    Tristan nickt. Habe ich mir gedacht. Dann pass mal auf – er nimmt einen Block hervor und schreibt einen Namen auf das oberste Blatt –, ich rufe morgen eine Freundin von mir an, sie ist Maklerin, und frage sie, ob sie dich ein paar Mal mitnimmt. So kannst du sehen, ob es dir gefällt. Einverstanden?
    Ja, sagt Anne. Gut.
    Eine Freundin, denkt sie. Was für eine Freundin? Als ob das eine Rolle spielt. Auch wenn da eine Sympathie ist, warum nicht. Als sie sein Gesicht heute wiedersah, war sie verblüfft, dass sie es sich nicht hatte vorstellen können. Ein schönes Gesicht. Alles so klar konturiert: die dunklen Augen und dichten Brauen. Die kräftige Nase. Die geschwungenen Lippen. Ein offenes Gesicht, ganz ohne Geheimnis.
    Anne, sagt Tristan, und sie sagt: Ja.
    Ich habe gefragt, ob es dir diese Woche schon recht ist. Oder ob du lieber noch warten willst.
    Nein, sagt sie. Diese Woche wäre gut.
    Wenn es dir gefällt, sagt Tristan, könntest du später auch noch eine Art Studium dranhängen. Irgendwann einmal. Ein Fernstudium.
    Er tippt etwas in seinen Computer, dreht den Bildschirm so, dass Anne ihn sehen kann. Das Foto eines jungen Mannes in dunklem Anzug. Nadelstreifen. Ein Bart, der nur das Kinn bedeckt. Christian Feder informiert Sie zusammen mit kompetenten Co-Autoren über alle
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