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Tonio

Tonio

Titel: Tonio
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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ich ihre Wärme noch nicht richtig. Mirjam bietet an, die beiden von gestern übriggebliebenen Wachteln für mich aufzuwärmen.
    Wenn ich die Schutzbrille noch ein paarmal aufsetze, dann nur um zu sehen, wie weit die Rückkehr des Lichts vorangekommen ist, als wollte ich, wie Tonio, jetzt möglichst schnell von der ganzen Sache erlöst sein.
    »Er hockt da im Halbdunklen und liest«, sagt Mirjam, als sie mit dem Essen aus der Küche kommt. »Unter einer kleinen Bettlampe, der Spinner.«
    Ich lasse mir die Wachteln schmecken, aber es verleiht der Mahlzeit etwas Unbehagliches, sie in diesem seelenlosen Licht zu verzehren. Es fühlt sich befreiend an, als die Sonnenfinsternis um Viertel vor zwei zu Ende ist.
    Das läßt sich alles, nebst einem Bericht vom Rest des Tages, in meinen Aufzeichnungen nachlesen. Doch seit dem Schwarzen Pfingstsonntag fast elf Jahre später bleibt meineErinnerung an die Sonnenfinsternis in dem Moment stecken, als Tonio sich ausklinkt. »So, und jetzt will ich nichts mehr damit zu tun haben.« In Momenten, in denen sein Tod wirklich zu mir durchdringt und sich mein Herz vor Kälte und Schreck verkrampft, liegt wieder dieser seelenlose Schein der Sonnenfinsternis über der Welt, die, wie damals, den Atem und alles Vogelgezwitscher anhält. Alles andere (der helle Tagesanbruch, die stechende Sonne an einem gleichmäßig blauen Himmel, die kontrastreiche Abenddämmerung) ist Illusion, eine Erinnerung daran, wie es möglicherweise einmal war. Es ist ein Schatten darüber gefallen – nicht der vitale Schatten, der von Kraft und Beweglichkeit der Sonne zeugt, sondern der falsche, giftige Schatten der Sonnenfinsternis, alles durchdringend und alles verseuchend.
7
     
    Nach den Wachteln gehe ich ins Haus. Draußen ist das Tageslicht wieder so grell, daß hier, im Halbdunkel, die Sonnenflecken vor mir tanzen. Die Tür zu Tonios Schlafzimmer steht weit offen. Er hockt im Schneidersitz auf der unteren Matratze des Stockbetts (schlafen tut er oben). Über seinen Oberschenkeln liegt eine aufgeschlagene Zeitschrift. Die Fensterläden in seinem Zimmer sind geschlossen. Tonio liest beim spärlichen Licht einer tannenzapfenförmigen Lampe, die an einem Bettpfosten befestigt ist. Seine Augen bewegen sich rasend schnell über die Seite und dann über die nächste. Vor ihm auf dem Fußboden ein hoher Stapel Donald-Duck- Hefte, die Mirjam in kompletten alten Jahrgängen bei Lambiek in der Kerkstraat für ihn gekauft hat. Aus der Geschwindigkeit, mit der er die Seiten umblättert, könnte man schließen, daß er sich nur die Bilder anschaut, aber als ich ihn einmal auf die Probe stellte und ihn eine Geschichte »abhörte«, zeigte sich, daß er die Sprechblasen keineswegs übersprungen hatte. (Zum Glück liest er auch die Fortsetzungsgeschichten aus dem Mittelteil der alten Donalds , rund um die rostigen Heftklammern, mit den Zeichnungen von Hans G. Kresse.)
    Von Zeit zu Zeit ein kurzes Schnauben: seine Art zu lachen, wenn er sich unbeobachtet wähnt, während er in unserer Gegenwart mit seiner Fröhlichkeit alles andere als geizt. Einfach ein elfjähriger Junge, der einen Comic verschlingt, als wäre es ein Hamburger oder ein Marsriegel. Er hat meine Anwesenheit noch immer nicht bemerkt, und falls doch, so verbirgt er das gut. Ich betrachte ihn gerührt. Wenn ich an mich zurückdenke, wie ich ihn damals beobachtete, preise ich mich glücklich, daß ich in dem Moment nicht wußte, was ich jetzt weiß: daß er da, mit elf Jahren, die Hälfte der ihm zugemessenen Jahre erreicht hatte. Etwas mehr als die Hälfte.
8
     
    Manchmal will ich ihn ganz nah bei mir haben. Dieser Gedanke stellt sich meist ein, wenn ich im Bett liege und lese und urplötzlich das Buch beiseite lege. Komm nur, sage ich dann lautlos. Komm nur, Tonio, unter die Decke. Ich werde dich warm halten.
    Sein Körper ist willenlos, schlaff, aber nicht kalt. Es ist der Tonio, der nach der Kollision auf dem Pflaster gelegen hat, zwölf Stunden vor seinem Tod. Die Insassen des roten Suzuki Swift sind ausgestiegen und trauen sich nicht, zu dem ein Stück weiter weggeschleuderten Körper zu schauen. Die Sirenen von Polizei und Rettungswagen sind noch nicht zu hören. Das Geflacker des Blaulichts ist noch nicht zu sehen. Das ist der Moment, in dem ich ihn aufhebe und zu meinem Bett trage, worauf ich die Decke zurückschlage.
    Komm nur. Ganz nah an mich heran. Das wird dich warm halten. Sie kommen gleich, um dir zu helfen.
9
     
    Ich denke, Mirjam wird
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