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Tonio

Tonio

Titel: Tonio
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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derzufolge der Beginn der Sonnenfinsternis in den Niederlanden, von Ort zu Ort leicht variierend, gegen zehn nach elf zu sehen sein wird. Was das auf Südfrankreich übertragen bedeutet, weiß ich nicht. Es ist noch nicht elf. Tonio kann völlig lautlos sein: Auf einmal steht er neben mir.
    »Adri, hast du schon mal eine totale Sonnenfinsternis erlebt?«
    »Ich weiß nicht, ob es eine totale war, aber irgendwann Anfang der sechziger Jahre … damals war ich so alt wie du jetzt … darum gab es einen Mordsaufstand. Wenn es soweit wäre, würde die Welt untergehen, glaube ich. Ein Stück Sonne, das plötzlich weg war, das ist alles, woran ich mich erinnere.«
    »Gab es da schon Sonnenfinsternisbrillen?«
    »Wir behalfen uns mit dem Deckel des Schokostreuselglases. Das war aus Hartplastik und dunkelbraun. Wenn ich nicht blind geworden bin, dann ist das den Punkten zu verdanken, mit denen man sich so ein Schokostreuselglas zusammensparen konnte.«
    »Ich schau jetzt noch mal.«
     
    Movo versucht, die Krankenschwester willentlich und wissentlich zu täuschen. Sein Tauchbad in dem Fritierfett sollte zu völliger Blindheit führen. Das hat nicht ganz geklappt. Jetzt versucht er es erneut. Zwölf Sekunden lang in das verdunkelte Sonnenlicht zu schauen genügt bereits, damit die Hornhaut zusätzlich beschädigt wird. Die Krankenschwester weiß nicht, daß Movos operativ angenähte Augenlider nur wenig bis gar kein Reaktionsvermögen zeigen …
     
    So ist es, und es ist nie anders gewesen: Ich mache jede Idylle kaputt, indem ich sie auf der Stelle zu Material für Romane zermahle. Möge ich dafür ewig in einer Hölle schmoren, die zu weit entfernt liegt, als daß man mich im Rettungswagen nach Beverwijk bringen könnte.
    »Es fängt an«, ruft Tonio vom Liegestuhl aus. Er setzt sich noch aufrechter hin.
    Ich schaue auf die Uhr neben meiner Schreibmaschine. Gerade erst elf Uhr vorbei.
    »Jetzt schon?« fragt Mirjam. Sie schiebt die Sonnenbrille hoch und blickt zu Tonio, nicht in die Sonne (glücklicherweise).
    »Schau selbst.« Tonio bringt seiner Mutter die Schutzbrille.
    »Ein ganz kleines Stück fehlt«, sagt sie. Tonio zieht ihr die Brille wieder von der Nase, wirft einen flüchtigen Blick hindurch und bringt mir dann das Ding. Ein kleines, aber unverkennbares Stück.
6
     
    Als Tonio wieder mit der Pappbrille vor den Augen auf dem Liegestuhl sitzt, gelingt es mir kaum mehr weiterzuarbeiten. Immer wieder muß ich zu meinem hübschen Jungen schauen, der dort so voller Hingabe, mit angespanntem Körper, das seltene Phänomen verfolgt, das er mir am Tag zuvor so gut erklärt hat. Meinerseits überraschte ich ihn mit der Mitteilung (die ich auch nur aus der Zeitung hatte), daß die nächste totale Sonnenfinsternis, zumindest in den Niederlanden, am siebten Oktober 2135 stattfindet.
    »In 136 Jahren«, sagte ich. »Das erlebe ich nicht mehr.«
    »Und ich?« Er fragte es lachend.
    »Die Wissenschaftler behaupten, daß der Mensch in naher Zukunft leicht hundertfünfzig werden kann. Du bist jetzt elf.«
    »Das schaff ich gerade noch«, jubelte er. »Und mir bleiben noch drei Jahre.«
    »Ja, dann kannst du noch drei Jahre lang über diese Sonnenfinsternis vom siebten Oktober nachdenken … und über die vor 136 Jahren, als du mit deinen Eltern in Frankreich warst.«
    Er sah mich strahlend an, wollte etwas sagen, aber ich konnte sehen, daß die Gedanken und Bilder, die hinter seinen Augen übereinanderpurzelten, ihn ganz in Beschlag nahmen.
     
    Etwas Bequemes hat es ja, findet Movo: daß man die Sonne, die einen beim ersten Anblick immer die Augen niederschlagen ließ, jetzt direkt anschauen kann.
     
    Von Zeit zu Zeit stehe ich auf, um neben Tonio in die Hocke zu gehen. Er reicht mir von sich aus die Brille. Der schwarze Bissen, den der Mond aus der Sonne genommen hat, wird größer und größer. Dann und wann bringt Tonio die Brille zu seiner Mutter. »Schau du ruhig für mich, Schatz«, sagt sie.
    »Mußt du selber wissen«, sagt Tonio. »Die nächste Sonnenfinsternis ist in hundertsechsunddreißig Jahren und zwei Monaten.«
    »Wenn es soweit ist, schaust du auch einfach für mich.«
    Gegen zwölf fällt es auf, daß die zur Unzeit eintretendeDämmerung ein seelenloses Licht über alles gelegt hat. Die Sonne, oder was von ihr übrig ist, sorgt zwar noch für einen samtenen Schatten, fühlt sich auf entblößten Körperteilen aber nicht mehr warm an. Stille senkt sich auf das Land, die nur von bellenden Hunden bei einem
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