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Tonio

Tonio

Titel: Tonio
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Es geschah ja im selben Moment vor ihren Augen.)
    Der Rettungswagen, und darin Tonio, setzte sich sprunghaft in Bewegung und hinterließ einen Flohzirkus ununterbrochen hin und her hüpfender Minigestalten. Mit einem Mittelding zwischen Schluchzer und Seufzer schmiegte Mirjam ihren Kopf wieder in meine Halsbeuge und murmelte die Worte, die sie seit jenem ersten Abend immer wieder benutzt hatte, wenn alle übrigen Äußerungen von Kummer aufgebraucht schienen: »Unser kleiner Junge.«
    Den Arm nach hinten um ihren Nacken gelegt, blickte ich weiter auf den Bildschirm. Die weiterlaufende Zeitangabeunten im Bild zeigte 05:09:14 an. War das Holland Casino um diese Zeit noch geöffnet? Ich stellte mir vor, daß hinter der hohen Außenmauer, an der die Überwachungskameras montiert waren, die Roulettekugeln weiterrollten. Ein müder Croupier harkte ein Vermögen an Jetons zusammen. Der mysteriöse Kunde mit den gelben Augen wagte endlich, den Knoten seiner Krawatte etwas zu lockern.

 
    Epilog
     
    Die Sonnenfinsternis
     
     
Je beißender das Wegsein,
je ratloser verfallen,
bis zum einst zu vollendenden,
seine Spuren dem Gefehlten.
     
Jeweils sobald ein Zittern fährt
durch den blütenumrankten Stiel,
der sein Wurfbeil noch im Zaum hält,
     
beschlägt äußerst kurz, aber doch,
die kleine Mondscheibe hinter seinem Herzen,
auf der jede Sekunde jeder Schlafende
seine Blutschuld versucht zu begleichen
in gegenläufig stockender Spiegelschrift.
     
    Hans Faverey, Das Gefehlte

1
     
    Der August geht dem Ende zu. Morgen ist der erste September, der Beginn des meteorologischen Herbstes. Heute morgen schrieb der Hausphilosoph der Volkskrant einen kurzen Artikel über die Hoffnung. Ich zitiere: »Hoffnung ist out, Angst ist in. Hoffnung und Angst sind Zwillingsbrüder, geboren aus der Unkenntnis der Zukunft. Wir hoffen das Beste, aber fürchten das Schlimmste.«
    Mag Hoffnung auch eine Form von Selbstbetrug sein, wir kommen ohne sie nicht aus, selbst wenn wir oft auf Teufel komm raus hoffen. »Hoffnung ist ein Reflex.« Doch wenn es so ist, daß der dem Tode Geweihte weiter auf Genesung hofft und der zum Tode verurteilte Verbrecher auf Gnade, was bleibt dann, Reflex hin oder her, für Mirjam und mich zu hoffen übrig? »Der Mensch kann seiner Angst nicht entrinnen, seiner Hoffnung jedoch genausowenig.«
    Die Hoffnung, daß Tonio je wieder zu uns zurückkehrt, ist zerstört. Die Angst, diese grauenhafte Wahrheit werde immer tiefer und obszöner in uns eindringen, nimmt nur noch zu. Was sollen wir hoffen? Daß das Gefühl des Verlusts früher oder später abnehmen wird? Eine hinfällige Hoffnung, denn der Verlust wird, samt Beweis, immer dasein.
    Wir entrinnen der Hoffnung nicht. Die Hoffnung entrinnt uns.
2
     
    Es scheint, als wären wir in eine Dimension der Wirklichkeit geraten, in der andere physikalische Gesetze gelten als für die Menschen um uns herum. Wenn ich allen gutgemeintenPrognosen glauben darf, sehen die meisten das Datum des verhängnisvollen Unfalls als Punkt in der Zeit, von dem wir uns über Bezugspunkte auf dem Kalender (ein Monat jetzt, schon drei Monate, bald vier, demnächst ein halbes Jahr) entfernen, während Verlust und Kummer einen organischen Verschleißprozeß durchmachen.
    Mirjam und ich erleben (mit jeweils leichten Varianten) die Situation völlig anders. Wenn wir, kurz zu Atem kommend, zurückblicken, sehen wir das Ereignis des dreiundzwanzigsten Mai in unberechenbarem (und nicht zu berechnendem) Tempo auf uns zu rasen. Anstatt sich, in der Zeit stillstehend, von uns zu entfernen, kommt das Datum und das, wofür es steht, immer näher – doch ohne uns einzuholen. Wir sind wie ein angeschossenes Wild, verfolgt von einer Hyäne oder einem anderen Aasfresser. Bei jedem Blick über die Schulter scheint sie näher herangekommen zu sein, hält sich aber noch zurück und wartet ab, und außerdem sorgt ihr Schatten für eine optische Täuschung.
    So werden wir für den Rest unseres Lebens von einem Schreckensbild gejagt, das bereits Fleisch geworden ist – das tote Fleisch Tonios. Von wegen Nachlassen des Schmerzes und des Kummers. Was nachläßt, ist nicht, was hinter uns liegt, sondern was sich, schrumpfend, vor uns erstreckt: die übriggebliebene Lebenszeit.
3
     
    Zum erstenmal seit Pfingsten bin ich, in einem halbherzigen Versuch, etwas für meine Kondition zu tun, wieder auf den Hometrainer gestiegen. Ich habe das Ding aus einer dunklen Ecke des Schlafzimmers auf einen Platz bei der Balkontür
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